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Berlin: Sie folgte ihrem Gewissen

Margarete Sommer rettete vielen Berliner Juden das Leben. Jetzt wird sie in Yad Vashem geehrt

1938 war Sonja Goldwerth zwölf Jahre alt und allein. Ihre Eltern waren in Konzentrationslager deportiert worden, ihre Stiefmutter hatte sie in ein katholisches Waisenhaus gebracht. Dort kam eine große, kräftige Frau auf sie zu und sagte: „Ich kümmere mich jetzt um dich“. Die Frau hieß Margarete Sommer und bewahrte sie vor den Vernichtungslagern. „Sie war mein Rettungsengel“, sagt Sonja Goldwerth heute. Am Donnerstag wird Margarete Sommer postum von der israelischen Gedenkstätte Yad Vashem als „Gerechte unter den Völkern“ ausgezeichnet. Gefeiert wird in der Herz-Jesu-Kirche in Prenzlauer Berg: Auf dem Gelände der Pfarrei in der Fehrbelliner Straße war vor 60 Jahren das „Hilfswerk beim Bischöflichen Ordinariat Berlin“ untergebracht, das Sommer leitete.

Die Katholische Kirche hatte das Hilfswerk gegründet, um zum Katholizismus konvertierten Juden zu helfen. Spätestens als die großen Deportationszüge ab 1941 in die Vernichtungslager rollten, machte es für Margarete Sommer aber keinen Unterschied, ob jemand den christlichen Glauben angenommen hatte oder nicht. Sie half, wo sie konnte.

In ihrem Büro in der zweiten Etage der heutigen Theresienschule stand das Telefon, an dem „die Sommerin“, wie sie von Mitarbeitern genannt wurde, von vielen Deportationen schon einen Tag früher erfuhr – vermutlich durch Vertrauensleute bei der Gestapo. Über die Gemeindepfarrer warnte sie die jüdischen Familien und organisierte Verstecke. Hier stand auch die Schreibmaschine, auf der sie mit Kirchenmännern und Ministern in England und USA, in Mittelamerika und sogar in China korrespondierte, um Ausreisemöglichkeiten für ihre Schützlinge zu suchen; hier tippte Margarete Sommer schockierende Berichte über die Deportationen für den Papst und leitete Hilfslieferungen in Konzentrationslager in die Wege.

Die Suche nach Spuren dieser mutigen Frau, die 1965 mit 72 Jahren in West-Berlin gestorben ist, führt in das Altersheim St.Josef nach Weißensee. Dort erzählt der 82-jährige Monsignore Horst Rothkegel von seinem ersten Tag als neuer Kaplan in Herz-Jesu. Als ihm sein Vorgänger am 1. Oktober 1944 die Amtsgeschäfte übergab, sagte er auf einmal: „Ich habe noch eine Erbschaft im Keller.“ „Ich dachte, der meint Möbel oder Wäsche“, sagt Rothkegel. „Da sitzt ein untergetauchter Jude“, fuhr sein Vorgänger fort und bat den jungen Kaplan, sich um ihn zu kümmern. Rothkegel versorgte den Mann und erfuhr erst 30 Jahre später, dass „sein“ Jude nicht der einzige war, der im Kohlenkeller unter der Sakristei saß. Auch Margarete Sommer hatte dort noch mindestens einen anderen Untergetauchten versteckt.

Sie sei eine „kluge, entschiedene Frau“ gewesen, sagt Rothkegel, „sie ruhte in sich“. Und das, obwohl ihr die Todesstrafe drohte. Aber wahrscheinlich konnte Margarete Sommer gar nicht anders, als zu helfen. Sie kam aus einer katholischen Familie und studierte Pädagogik und Volkswirtschaft. Schon als Zwanzigjährige kümmerte sie sich nebenbei um hilfsbedürftige Frauen, besuchte Strafgefangene und unterrichtete an Wohlfahrtsschulen. 1934 wurde sie entlassen, weil sie sich weigerte, die Rassenlehre der Nazis zu vermitteln. Die verstieß ihrer Meinung nach „gegen die im göttlichen Gesetz verankerten unaufhebbaren Menschenrechte“. In einem Brief schrieb sie 1962 von „seelischen Kämpfen“, die sie durchstehen musste, weil die Gesetze das Verbrecherische darstellten und die vermeintlich gesetzlosen Handlungen das Humanitäre – und weil eine „unvorstellbare Masse Not und Verzweiflung täglich an mich herantrat“. Sie hielt durch und folgte ihrem Gewissen. Sonja Goldwerth hat sie so das Leben gerettet. Sie hat für das Mädchen Verstecke gefunden und sie in Heimen untergebracht, bis der Krieg zu Ende war.

Die Ehrung findet statt am 29. Januar, 20 Uhr, Herz-Jesu-Gemeinde, Fehrbelliner Straße 98. Im Keller der Kirche erinnert eine Ausstellung an Margarete Sommers Wirken.

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