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Das Kriminalgericht Moabit ist das größte Strafgericht Europas – und doch viel zu klein. Deshalb sollen die Staatsanwälte bald umziehen.

© Kitty Kleist-Heinrich

Sinkende Kriminalität: Keine Entlastung für Berliner Justiz

Die Kriminalität ist zwar gesunken, für die Justiz bedeutet das aber keine Entwarnung. Staatsschutzdelikte erfasst die Statistik nicht - aber gerade hier gibt es einen Anstieg.

Von Fatina Keilani

Wie schön, die Kriminalitätszahlen sind gesunken – dann müsste doch auch die Justiz entlastet sein? Leider nein. Denn einige der Probleme, unter denen die Strafgerichte ächzen, finden in der Polizeilichen Kriminalitätsstatistik gar nicht statt. Staatsschutzdelikte zum Beispiel, oder Verkehrsdelikte. Dabei ist gerade bei Staatsschutzdelikten – Stichwort Islamismus – ein Anstieg der Verfahren zu beobachten, der viele Probleme mit sich bringt, unter anderem einen hohen Bedarf an Sicherheitssälen. Doch von vorn.

Am plakativsten wird die Krise der Justiz immer dann, wenn mal wieder Straftäter aus der Untersuchungshaft entlassen werden müssen, weil das Gericht nicht schnell genug das Verfahren eröffnet hat. Dies war im vergangenen Jahr sechs Mal der Fall, in den beiden Vorjahren jeweils sieben Mal. Doch die Probleme beginnen schon viel früher, und wie so oft hängt alles mit allem zusammen.

Die Akte kommt zum Staatsanwalt

Die Ermittlungsakte der Polizei erreicht den Staatsanwalt, und dieser muss nun weiterermitteln. Theoretisch sind Polizeibeamte „Hilfsbeamte der Staatsanwaltschaft“, diese ist Herrin des Verfahrens. Faktisch ist es längst die Polizei, die entscheidet, in welche Richtungen sie ermittelt – es gibt viel zu wenig Staats- und Amtsanwälte, um der Verfahrensflut Herr zu werden. Mehr Einwohner begehen mehr Straftaten, mehr Polizisten ermitteln mehr Vorgänge, und mehr Staatsanwälte? Gibt es nicht.

Ein Flaschenhals, jedenfalls bisher. Statt Menschen werden Verfahren eingestellt, 70 Prozent der Taten kommen nie vor ein Gericht. Die Einstellung ist die Methode der Wahl für einen Staats- oder Amtsanwalt, um sich zu entlasten und wenigstens die wichtigen Sachen verfolgen zu können. Diese werden aber immer komplexer. Neue Säle werden jetzt so geplant, dass sie zehn bis zwölf Angeklagte aufnehmen können.

Immerhin wird seit 2016 wieder mehr Personal eingestellt. 2016 wurde mit 166.192 Eingängen ein Höchststand bei den Eingangszahlen erreicht; 108.979 Sachen wurden eingestellt. Bei der Amtsanwaltschaft war der Höchststand 2014 mit 168.821 Eingängen, im selben Jahr wurden 104.507 Sachen eingestellt. Die Amtsanwälte kümmern sich um die Fälle leichterer Kriminalität, wozu auch Diebstahl und Schwarzfahren gehören – also ums Massengeschäft. Sie haben nach eigenen Angaben zwei Minuten pro Akte, da geht Einstellen schneller als Anklagen. Amtsanwälte sind Rechtspfleger mit Zusatzausbildung. Seit drei Jahren haben sie den Vorteil, dass sie die Zuständigkeit für Betrugsdelikte an die Staatsanwaltschaft losgeworden sind. So könnte sich auch die Verschiebung der Zahlen erklären.

Die Akte geht weiter zum Gericht

Schreibt der Staatsanwalt den Satz „Die Ermittlungen sind abgeschlossen“, so kann das zwei Folgen haben: Das Verfahren wird eingestellt (meistens), oder es wird Anklage erhoben. Jedenfalls kann er die Akte in den Ausgangskorb legen. Im Anklagefall wandert die Akte weiter zum Gericht. Bis es aber zu dem eingangs zitierten Satz kommt, kann es dauern, denn die Ermittlungen werden immer umfangreicher und die Verfahren immer komplexer.

Dank technischer Mittel wie der Telekommunikationsüberwachung müssen manchmal Hunderte Seiten mitgeschriebener Telefonate ausgewertet werden, die zudem oft übersetzt werden müssen. Entsprechend viel Arbeit kostet dann die Anklageschrift. Endlich wird beim zuständigen Gericht Anklage erhoben.

Die Akte liegt herum

Handelt es sich um eine Haftsache, ist Eile geboten. Spätestens vier Monate nach Anklageerhebung muss die Hauptverhandlung beginnen, das schaffen die Gerichte oft nicht, und natürlich geht das Vorziehen der Haftsachen auf Kosten aller anderen Sachen. Dicke Wirtschaftsstrafverfahren bleiben Jahre liegen, und am Ende fallen die Strafen milde aus, weil es für die Verzögerung einen Strafabschlag gibt.

Wie viele große Verfahren seit Jahren nicht drankommen, weil Haftsachen Vorrang haben, konnte die Justizverwaltung zunächst nicht sagen. Es gebe derzeit nur ein Verfahren, in dem die Hauptverhandlung begonnen habe und in dem die Wirtschaftsstrafkammer seit mehr als drei Jahren an mittlerweile 148 Verhandlungstagen verhandelt.

Ginge es nach einigen Staatsanwälten, würde die Beweislast hinsichtlich der Vermögen von Verdächtigen umgekehrt – dann müsste der Verdächtige beweisen, dass er die Werte legal erworben hat. Es ist aber umgekehrt, der Staat muss ihm die Rechtswidrigkeit nachweisen und kann sonst kein Vermögen abschöpfen. Lästig für Ermittler, jedoch zwingend unter dem Aspekt der Rechtsstaatlichkeit. Derzeit drohen mehrere große Verfahren zu verjähren.

Das Gericht ist am Zug

Hält das Gericht einen hinreichenden Tatverdacht für gegeben, so eröffnet es das Hauptverfahren, anderenfalls lehnt es die Eröffnung der Hauptverhandlung ab. Das geschah im Jahr 2016 am Amtsgericht Tiergarten 151 Mal, am Landgericht 13 Mal. Gestiegen ist vor allem die Zahl schwerer Straftaten und die Zahl der Staatsschutzdelikte.

Im Oktober verfasste das Landgericht einen Hilferuf, wonach fast alle großen Strafkammern ihre Überlastung angezeigt haben und das Gericht nun nicht wisse, wie die Eingänge verteilt werden sollen. Es sollen neue Richter eingestellt werden, doch wohin mit ihnen? Zudem gibt es zu wenig Säle für die Strafkammern; das Kammergericht verhandelt seine Staatsschutzsachen ebenfalls in Moabit, weil der Sicherheitssaal im Kammergerichtsgebäude eine Fehlkonstruktion ist.

Die Auslastung der Säle wird nicht erfasst; an manchen Tagen nutzt eine Kammer den Saal vormittags und eine andere nachmittags. Laut Justizverwaltung lag die Auslastung der Sicherheitssäle zwischen September 2015 und März 2016 bei 90 Prozent, außerhalb dieses Zeitraums weiß man es nicht.

Der Prozess läuft

Und er dauert. Es müssen Zeugen vernommen werden, Sachverständige gehört, durch die große Zahl ausländischer Angeklagter werden viele Dolmetscher gebraucht. Je mehr Angeklagte, desto mehr Verteidiger müssen koordiniert werden. Die Doppelbelegung der Säle betrifft vor allem Fälle, in denen Sicherungsverfügungen erlassen wurden oder sich mehr als fünf Angeklagte in Haft befinden, und sie verlangsamt alles, da man nicht bis zum Ende verhandeln kann.

In größeren Verfahren mit mehreren Angeklagten und deren Anwälten freut das Verteidiger und Angeklagte: Je länger alles dauert, desto milder fällt am Ende die Strafe aus. Es fehlt im Gericht an fast allem: Säle, Richter, Staatsanwälte, Büros, Mitarbeiter. Staatsanwälte stehen selbst am Kopierer, um Hunderte Aktenseiten zu vervielfältigen. Zeit, die für ihre eigentlichen Tätigkeiten verloren geht. Die elektronische Akte ist immer noch weit entfernt. Es gibt sie am Amtsgericht Charlottenburg, und in Neukölln startet im September der Pilotbetrieb.

Die dicken Fische passen durch die Maschen

Das organisierte Verbrechen ist den Ermittlern voraus. Es werden Zeugen eingeschüchtert, Beweise verschwinden, und schlussendlich ist die Staatsanwaltschaft schon froh, wenn sie einen Al-Z. oder R. oder Abou-C. wenigstens mal ein paar Monate in Untersuchungshaft hatte. Hinzu kommen nun noch islamistische Gefährder, die man nur abschieben kann, wenn ihnen im Heimatland keine Gefahr droht und wenn sie überhaupt einen Pass haben. Der Senat ist insgesamt gegen Abschiebungen. Die Zahl der Terrorprozesse ist massiv gestiegen.

Es ist nirgends Platz

Staatsanwälte sitzen zum Teil zu dritt in Einzelbüros. Immerhin wird jetzt nach Räumen gesucht. Das Dachgeschoss des Gebäudes in Moabit könnte ausgebaut werden, doch das dauert Jahre. Es wird also eine schnellere Lösung benötigt, und die sieht so aus: Das Verwaltungsgericht soll ausziehen. Dann wird in der Kirchstraße Platz frei, den die Staatsanwaltschaft beziehen könnte.

Das Verwaltungsgericht soll in das Kathreiner-Haus am Kleistpark ziehen. Laut Justizsenator Dirk Behrendt (Grüne) ist aber auch die Herrichtung dieses Gebäudes nicht unter drei Jahren zu schaffen. Zudem droht ein Nachwuchsproblem: In den nächsten zehn Jahren geht die Hälfte aller Staatsanwälte in Pension. Schon jetzt ist es nicht leicht, genügend gute Bewerber zu finden.

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