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Sonntagsinterview: "Die DDR sollte unser Schaufenster sein"

Sein Vater befahl den Mauerbau, obwohl er, sagt Sergej Chruschtschow, dagegen war. Von der Angst vor Stalin, Schmetterlingen in New York und dem Schuh vor der Uno

Von Andreas Austilat

Herr Chruschtschow, war es eine große Bürde, einen Vater zu haben, dessen Karriere schwer zu übertreffen sein wird?
Solche Ambitionen hatte ich nie. Außerdem war ich mit meiner Position als Ingenieur in der Raketenforschung sehr zufrieden. Und in den 80er Jahren war ich stellvertretender Direktor des größten Computer-Unternehmens der Sowjetunion.
Sie wurden bereits im Alter von 25 mit dem Lenin-Preis ausgezeichnet.
Stimmt, 1960, für meine Arbeit am Leitsystem der ersten sowjetischen Cruise Missile. Die Raketenforschung war eine sehr junge Industrie, vergleichbar mit der Computerbranche später.
Waren Sie auch am sowjetischen Weltraumprogramm beteiligt?
Natürlich. Wenn Sie auf 300 Kilometer Entfernung einen amerikanischen Flugzeugträger zerstören wollen, brauchen Sie auch Aufklärung. Deshalb entwarf unsere Abteilung Satellitensysteme. Wir entwickelten auch eine Interkontinentalrakete, die dazu fähig war, strategische Ziele in den USA zu treffen. Aus der ging die Proton hervor, die fliegt heute noch zur Internationalen Raumstation ISS. Doch damit habe ich längst nichts mehr zu tun.
Die Absetzung Ihres Vaters im Jahre 1964 hat Sie den Job gekostet?
Nicht sofort. Aber ab 1968, als ich begann, meinem Vater bei der Arbeit an seinen Memoiren zu helfen, begann man Druck auszuüben, damit wir das beendeten. Ich wurde aus der Raketenforschung in die Computerentwicklung versetzt.

Sie leben seit 1990 in den USA, doch heute treffen wir uns in Ihrem Moskauer Appartement. Sind Sie oft hier?
Vielleicht einmal im Jahr für zwei Wochen. Wenn ich länger bleibe, weiß ich nicht, was ich machen soll. Meine Frau und ich haben zwar unsere Söhne und Enkel hier, die uns auch besuchen.

Doch sie haben ihr eigenes Leben und nur, damit wir telefonieren, muss ich nicht nach Moskau kommen.
Sie haben den Westen schon als junger Mann kennengelernt, als Sie Ihren Vater auf seinen Reisen begleiteten.1956 waren Sie in London. Wie gefiel es Ihnen dort?
Es war ein Schock. Ich wuchs mit Stalins Propaganda auf, nach der die westliche Welt unter kapitalistischer Unterdrückung lebte. Und dann all diese Geschäfte! Die Leute sahen so aus, als ginge es ihnen besser als den Moskowitern.
Drei Jahre später waren Sie in den USA. Das muss ja noch schlimmer gewesen sein.
Nein, diesmal wussten wir schon mehr über den Westen. Und wir wussten auch, was wir alles können. Es war ja das Jahr nach dem Sputnik-Start. In Amerika war es gewissermaßen umgekehrt, man fährt mit der Vorstellung hin, die leben alle in Wolkenkratzern. Und dann brachten sie mich nach Brooklyn, und ich dachte, was ist das denn, diese kleinen Häuschen?
Was wollten Sie in Brooklyn?
Ich hatte gelesen, dass es dort einen Experten für Schmetterlinge gibt, mein Sammelgebiet. Den wollte ich unbedingt besuchen.
Es war der Kalte Krieg. Sie mussten damit rechnen, dass mehrere Geheimdienste Sie beobachten.
Ich habe nie befürchtet, ich könnte gekidnappt werden, falls Sie das meinen. Doch es gab da tatsächlich einen Zwischenfall. Als ich in New York war, wurde der Raketenforscher Wladimir Tschelomej, mein Chef, mit dem Lenin-Preis ausgezeichnet. Ich hatte die Einladung in der Tasche und vergaß, sie rauszunehmen, als ich den Anzug in New York in die Reinigung gab. Später schnappten unsere Leute einen Spion, der versucht hatte auszuforschen, wofür Tschelomej ausgezeichnet wurde. Mein Vater fragte mich, ob ich eine Ahnung hätte, warum die anderen davon wüssten. Das war mir sehr unangenehm.
Sie kamen mit Ihrem Vater 1958 auch nach Berlin. Können Sie Ihr Verhältnis zu Deutschland beschreiben, 13 Jahre nach dem Krieg.
In unseren Augen waren das immer noch Feinde.
Haben Sie nicht zwischen den guten Ostdeutschen und bösen Westdeutschen unterschieden?
Auf der politischen Ebene, emotional waren das ja alles Deutsche. Das änderte sich erst in den 60ern.
Ihr Vater und der DDR-Staatsratsvorsitzende Walter Ulbricht sollen sich bereits länger gekannt haben.
Ich würde nicht sagen, dass sie gute Bekannte waren. Mein Vater hatte während der Schlacht von Stalingrad das politische Kommando, und Ulbricht war dort auf einer deutlich niedrigeren Ebene angesiedelt. Seine Aufgabe war es zum Beispiel, deutsche Soldaten zum Überlaufen zu bewegen. Mein Vater hat einmal erzählt, wie er und Ulbricht gemeinsam gegessen hätten, und er habe zu Ulbricht gesagt: Sie haben sich Ihr Essen nicht verdient. Obwohl Sie den ganzen Tag geredet haben, ist kein Deutscher zu uns rübergekommen.
Und wie war später seine Einstellung zu Ulbricht?
Ich glaube, sie hatten Differenzen darüber, welche Reformen nötig waren. Wenn mein Vater mit Leuten zu tun hatte, die selbst keine kreativen Ideen beisteuerten, verlor er rasch das Interesse.
Wir stehen vor dem 50. Jahrestag des Mauerbaus in Berlin. Wie erinnern Sie sich an den August 1961?
Ich war in jenen Tagen in Moskau, deshalb war ich kein Augenzeuge. Aber ich kenne natürlich die Rahmenbedingungen: Es war meines Vaters Ziel, zu erreichen, dass die Sowjetunion von den USA als gleichwertige Supermacht anerkannt wird.
Sie waren auf dem besten Weg, beide Seiten stellten damals Raketen auf, die den Gegner nicht bloß besiegen, sondern vernichten konnten.
Zunächst einmal gehen die USA immer davon aus, dass sie die Nummer eins sind. Was also machen Sie, wenn Sie jemanden in der Klasse haben, der sich ständig für besser hält als Sie, im Sport, in Musik? Sie fordern ihn heraus. Und das hat Chruschtschow getan, andauernd. Eine Politik, die erst mit der Kuba-Krise endete und mit der Anerkennung der Sowjetunion als Supermacht.
Sie wollen damit sagen, die Mauer wurde errichtet, um die USA herauszufordern?
Teil dieser Politik der Gleichwertigkeit der Blöcke war die Anerkennung Ostdeutschlands als eigenen Staat. Aber es gab noch einen zweiten Faktor: Ulbricht bestand darauf, dass es ihm nicht gelingen werde, die wirtschaftliche Situation der DDR zu stabilisieren, solange er die gut ausgebildeten Leute nicht im Land halten könne.
Und Ihr Vater glaubte, diesen Zerfallsprozess mit einer Mauer aufhalten zu können?
Mein Vater hat Ulbricht gesagt, du kannst nicht allein durch die Kraft unserer Bajonette an der Macht bleiben. Das ist gegen alle Vernunft, das ist Schwäche. Du musst von deinem Volk unterstützt werden, sonst hat das alles keinen Sinn. Wir können diese Auseinandersetzung nur bestehen, wenn wir den Leuten bessere Perspektiven bieten. Und du, Genosse Ulbricht, bist unser Schaufenster für den Westen. Die Leute aus Westdeutschland und West-Berlin müssen zu uns wollen. Und dann kam 1961 das erfolglose Gipfeltreffen in Wien.
Wo US-Präsident Kennedy auf dem westlichen Standpunkt und der Beibehaltung des Viermächtestatus für Berlin beharrte, mit freiem Zugang für die Alliierten.
Kennedy stand doch unter dem Einfluss von Adenauer und den Westdeutschen. Jedenfalls gab es keine Annäherung, und Ulbricht klagte erneut, dass der DDR der Bankrott drohe.
Die Historikerin Hope Harrison schreibt, es war Ulbrichts Mauer, der Historiker Matthias Uhl fand in den Kreml-Archiven Dokumente, mit denen er glaubt, belegen zu können, dass Chruschtschow den Befehl zum Bau gab. Wem geben Sie recht?
Beiden. Es war Ulbrichts Mauer, weil mein Vater sie nicht wollte. Ulbricht wäre aber niemals in der Lage gewesen, diese Mauer ohne Genehmigung meines Vaters zu bauen. Chruschtschow gab Anweisung, die Truppen zurückzunehmen, es sollten Ulbrichts Leute sein, die die Mauer im physischen Sinne bauen. Doch es würden sowjetische Soldaten sein, die den Amerikanern entgegentreten, wenn die irgendetwas probierten.
Es wäre zum Krieg gekommen, wenn die Amerikaner die Mauer wieder eingerissen hätten?
Das war sehr unwahrscheinlich. Schließlich brachte die Mauer beiden Seiten einen Vorteil. Niemand musste anerkannt werden, trotzdem würden beide Seiten voneinander geschieden. Und es war klar, auch wir wollten keinen Nuklearkrieg, es sei denn, wir würden in eine Ecke gedrängt, in der wir uns nicht mehr bewegen können. In dem Moment, in dem die Mauer eingerissen würde, wären wir allerdings in der Ecke gewesen.
Diese Situation hätte es im Oktober 1961 beinahe gegeben. Amerikanische Panzer näherten sich dem Checkpoint Charlie, hinter ihnen rückten Bulldozer an. Da kamen auf der anderen Seite russische Panzer aus den Seitenstraßen. Die Supermächte standen sich Rohr an Rohr gegenüber.
Wir wussten, dass es keinen Angriffsbefehl aus dem Weißen Haus gegeben hatte. Es war eine lokale Entscheidung von Lucius D. Clay. Der war zwar Kennedys persönlicher Vertreter in Berlin, doch auch ein Clay war nicht in der Lage, einen Krieg zu beginnen.
Die Möglichkeit, Ihr Geheimdienst hätte sich geirrt, möchte man sich lieber nicht ausmalen. Zumal in der westlichen Welt der Name Ihres Vaters mit seinen Temperamentsausbrüchen verbunden ist. Spätestens, seitdem er auf einer UN-Vollversammlung 1960 mit seinem Schuh auf den Tisch getrommelt hatte.
Moment mal, ich kann Ihnen erklären, was da wirklich geschah. Ich glaubte ja selbst an die westliche Version – bis mich der amerikanische Sender NBC Anfang der 90er anrief und um ein Interview zu diesem Zwischenfall bat. Ich war einverstanden, unter der Bedingung, dass sie mir ihr Material zu dieser Geschichte übergeben. Sie bedauerten, sie hatten kein Material.
Im Internet gibt es doch Bilder, die zeigen Ihren Vater mit dem Schuh in der erhobenen Faust.
Eine schlechte Fotomontage. Es war so: Mein Vater war von vielen Menschen umringt, einer trat ihm auf den Fuß, und dabei verlor er seinen Schuh, so einen leichten Sommerschuh. Weil er den nicht wieder anbekam, legte er ihn auf die Ablage vor sich.
Einen Sommerschuh? Es war spät im Oktober.
Aber in New York war es noch sehr warm, jemand musste ihm extra ein paar amerikanische Sommerschuhe besorgen. 1960 verliefen Sitzungen vor der UN wie ein Fußballspiel, die Zuschauer applaudierten, sie buhten, sie riefen „Einspruch“. Es sprach der Delegierte der Philippinen, die noch nicht lange von den USA unabhängig waren. Der Delegierte erklärte, welch angenehme Erinnerungen sein Land an die Kolonialzeit habe und wollte lieber über die Versklavung der Völker des Ostblocks sprechen.
Da haute Ihr Vater auf den Tisch.
Mein Vater konnte als Anführer des Ostblocks nicht schweigen. Er hob den Arm. Doch der Geschäftsführer sah ihn nicht, vielleicht wollte er es auch nicht. Da schlug er mit dem Schuh auf den Tisch. Jetzt wurde er bemerkt, und mein Vater ging ohne seinen Schuh zum Podium und erklärte ziemlich energisch, dass die Philippinen abhängig seien von den amerikanischen Imperialisten. Als er fertig war, setzte er sich vorn auf einen freien Stuhl. Er hätte also gar nicht mit seinem Schuh auf das Podium trommeln können.

Ihr Vater hatte im Westen ein Rabaukenimage: risikobereit, trinkfreudig …
… er trank nicht, er war in den 20er Jahren sogar Vizepräsident einer Abstinenzlerbewegung.
Der deutsche Journalist Gerd Ruge arbeitete in den frühen 60ern in Moskau. Er hat uns erzählt, er habe Ihren Vater betrunken gesehen.
Er mochte einen guten Wein, trank mal einen Cognac, aber keinen Wodka. Schon wegen seiner Nierensteine war es ratsam, sich zurückzuhalten. Ich habe ihn nur einmal betrunken gesehen. Da kam er von Stalin, der ihn dazu gezwungen hatte. Mein Vater hatte heimlich Tee in sein Glas getan, aber die anderen merkten das und Berija …
… in Stalins Regime als Geheimdienstchef zuständig für Verhaftung, Folter und Mord …
… Berija sagte, Chruschtschow ist nicht ehrlich, er trinkt Tee. Mein Vater verteidigte sich, er habe schlimme Nieren. Aber Berija antwortete, na und, ich bin auch nicht gesund und trinke trotzdem.
Das klingt nach Komödie. Tatsächlich tragen viele Todesurteile aus jenen dunklen Jahren nicht nur Stalins Namen, sondern auch den Ihres Vaters.
Das bestreite ich. Ich sage nicht, dass er so tapfer war, nicht zu unterzeichnen. Sie müssen sich das so vorstellen: Man saß an einem runden Tisch, und es war Stalins Politik, Todesurteile zu unterzeichnen und sie über den Tisch zu schieben. Wer das nicht unterschrieb, war der Nächste auf der Liste. Aber 1937, auf dem Höhepunkt der Unterdrückung, war mein Vater in der Ukraine und damit in einer viel zu geringen Position, als dass Stalin seine Unterschrift gebraucht hätte. Und wir hatten das Glück, dass Stalin nach dem Krieg starb, bevor es zu einer neuen Terrorwelle kam. Später gab es eine KGB-Kampagne, die in den Jahren 1965 bis 1967 Unwahrheiten über meinen Vater verbreitete.
Er war seit 1939 Mitglied des Politbüros der Kommunistischen Partei, des damals mächtigsten Gremiums. Wollen Sie ernsthaft sagen, Ihr Vater war nie Teil des stalinistischen Systems?
Natürlich war er Teil des Systems, das hat er ja drei Jahre nach Stalins Tod, auf dem 20. Parteitag 1956 eingeräumt. Er war es, der dort erklärte, wir müssen dem Volk die Wahrheit sagen, wir müssen bekennen, und dann soll das Volk entscheiden. Weil alle von uns Teil des stalinistischen Systems waren, alle haben wir Blut an den Händen.
Eine gefährliche Situation. 1956 waren Sie 18 Jahre alt. Hatte Ihr Vater Sie in seine Pläne eingeweiht, welche Rede er dort halten würde?
Nein, er war wie immer. Nach dem Parteitag kam er nach Hause und legte sich schlafen. Uns hat er erst später erzählt, was passiert war. Natürlich musste er fürchten, verhaftet zu werden, aber eine wirkliche physische Gefahr bestand für ihn wohl nicht mehr. Zu diesem Zeitpunkt hatte er bereits die Unterstützung des Militärs und des Geheimdienstes.
Im Gegensatz zu Berija, der wurde am Ende dieses Machtkampfes erschossen. Wie sehen Sie das: als Rache, Selbstverteidigung?
Von allem etwas. Es gab eine Menge Leute, die Interesse am Tod Berijas hatten. Hätte er die Kontrolle übernommen, er hätte die Sowjetunion in einen stalinistischen Polizeistaat verwandelt. Und wenn man weiß, in diesem Fall würde man zu den künftigen Opfern zählen, ist die Sorge um die Zukunft des Landes und die Sorge um das eigene Schicksal nicht mehr voneinander zu trennen.
Wurde bei Ihnen zu Hause über Stalin gesprochen?
Nie. Das wäre viel zu gefährlich gewesen.
Sie schreiben in dem Buch über Ihren Vater, er habe Sie mal aufgefordert, eine Jazzplatte wegzuwerfen, aus Sorge, Stalin könnte davon erfahren.
Die Kulturpolitik unter Stalin war nicht leicht nachzuvollziehen. Er selbst hatte einen Preis gestiftet. Und es konnte passieren, dass er sagte, oh, ich habe gestern dieses Buch gelesen, es hat mir gefallen, wir sollten dem Autor den Stalinpreis verleihen. Manchmal mussten seine Leute ihm dann antworten, aber Genosse Stalin, das Buch ist vor zwei Jahren erschienen, der Autor sitzt jetzt im Gulag. Entweder er sagte dann, was für ein Fehler, holt ihn da raus. Oder er war der Meinung, die Geheimpolizei wird schon wissen, was zu tun ist, da kann man nichts machen. Auf dem Höhepunkt seiner antiamerikanischen Politik wurde eben der Jazz Bestandteil der Feindkultur.
Was war denn das für eine Platte, die Sie da hatten?
Von dem Sänger Leonid Utjossow, der hatte Ende der 20er Jahre ein in der Sowjetunion ungeheuer populäres Jazzorchester. Vielleicht vergleichbar mit Michael Jackson heute. Mein Vater sagte, wirf die Platte weg. Erstens weil es gefährlich war und zweitens, falls unser Haus abgehört würde, wäre es nicht schlecht, wenn sie mitkriegten, wie Chruschtschow sagt, wirf die Platte weg.
Haben Sie sie weggeworfen?
Selbstverständlich. Nicht, weil ich verstanden hatte, dass der Besitz gefährlich wäre, sondern aus Respekt vor meinem Vater.
Sie erklärten gerade, der Name Chruschtschow stand 1956 für die Wende nach Stalin. Viele Leute verstanden darunter mehr Freiheit.
Und sie kriegten auch mehr Freiheit.
Haben die Ungarn da etwas falsch verstanden?
Der Ungarnaufstand war natürlich sehr unerfreulich und eine große Belastung für meinen Vater. Er beging einen Fehler, als er nicht selbst dorthin fuhr, sondern Mikojan und Suslow schickte, der eine ein guter Verhandler, der nur nie Entscheidungen traf, der andere ein Ideologe, der immer erst bei Marx oder Lenin nachschlug. Und auf der ungarischen Seite Imre Nagy, ein ehemaliger KGB-Agent, der vollkommen die Kontrolle verlor.
1956 war Nagy die Hoffnung der Ungarn.
Ja, die jungen Ungarn kämpften für ihre Freiheit. Doch wären sie an die Macht gekommen? Angenommen 1956 wäre es in Japan zu antiamerikanischen Tumulten gekommen, die Anhänger Amerikas wären getötet worden, sie wären aufgefordert worden, ihre Stützpunkte zu räumen. Was wäre dann passiert? Chruschtschow hatte keine Wahl, aber es war eine Niederlage für ihn, weil er danach als Unterdrücker da stand. Es war einer der größten amerikanischen Siege im Kalten Krieg.
Und der Bau der Berliner Mauer war propagandistisch die nächste sowjetische Niederlage: Ihr Vater und Ulbricht kalkulierten, erst würde die West-Berliner Industrie abwandern, dann würden die Leute folgen, weil sie keine Arbeit mehr fänden. Aber sie blieben. Eine Überraschung?
Eher eine Fehlkalkulation. Was meinen Vater überraschte, war, dass so viele Ost-Berliner im Westen gearbeitet hatten, wo die Bedingungen doch hätten schlechter sein müssten.
Die Mauer war kein Erfolg.
Natürlich nicht. Solch eine Mauer ist zunächst immer ein Zeichen von Schwäche. Sie ist wie ein Schmerzmittel. Und währenddessen frisst sich der Krebs in dein Gehirn. Das war das Problem der Berliner Mauer, sie war gegen die Symptome gerichtet. Und gleichzeitig verhinderte sie jeden Austausch, jeden Wettbewerb. Eine Mauer taugt nicht als Lösung. Das gilt übrigens auch für Israel oder für die Grenze zwischen Mexiko und den USA.
Vielleicht lag es am System des Ostens, das einfach nicht konkurrenzfähig war?
Unsinn. Sie können jedes System reformieren.
Glauben Sie, dass es die Sowjetunion heute noch gäbe, wenn man Ihren Vater hätte machen lassen?
Alle ernstzunehmenden Historiker werden Ihnen bescheinigen, dass die russische Bevölkerung im 20. Jahrhundert nie besser gelebt hat als unter Chruschtschow. Zu Beginn des Jahrhunderts war die Lebenserwartung 15 Jahre geringer als in den USA zum gleichen Zeitpunkt, 1964 war sie ein Jahr höher als in den Vereinigten Saaten und am Ende des Jahrhunderts war sie wieder geringer. Mein Vater hatte 1962 erkannt, dass die zentralisierte Planwirtschaft nicht effektiv ist. 48 Unternehmen und drei Staatsfarmen beteiligten sich an einem Experiment, bei dem die Entscheidungsmacht den Unternehmen überantwortet wurde. Ich kenne jetzt nicht die Daten aller Betriebe, doch ich weiß von einer Staatsfarm, dass sich ihre Produktivität versiebenfacht hat. Doch mit Breschnew begannen 25 Jahre der Stagnation.
Ihr Vater wurde 1964 als Parteichef und Ministerpräsident abgesetzt. Zehn Jahre früher hätte solch eine Entscheidung noch seinen Tod bedeutet.
Wir wissen von einem hochrangigen KGB-Mitarbeiter, dass Breschnew mit ihm über die Möglichkeit sprach, meinen Vater zu beseitigen. Viele Historiker bestreiten das, ich glaube ihm. Breschnew war eine schwache Person. Und er hatte Angst. So etwas ist immer gefährlich. Aber der KGB-Mann weigerte sich, und Breschnew verfolgte den Gedanken nicht weiter. Immerhin ein Fortschritt.
Sie sprachen vorhin von 25 Jahren der Stagnation, also bis 1989, ungefähr bis zu Gorbatschow. Ist denn Russland heute wieder auf dem richtigen Weg?
Als Gorbatschow an die Macht kam, war es bereits zu spät. Wenn ein Land über einen so langen Zeitraum vernachlässigt wird, führt das zu revolutionären Zuständen. Die Leute wollen Veränderung über Nacht. Plötzlich galt Karl Marx nicht mehr als Genius, sondern als ständig betrunkener deutscher Jude, und wir wollten Milton Friedman und seine Chicagoer Ideen einer entfesselten Marktwirtschaft. Wenn wir ihm folgten, würden wir in zwei Jahren wie die Amerikaner leben. Tatsächlich wurden sämtliche Strukturen zerstört. Die Neoliberalen richteten ein ähnliches Desaster an wie die bolschewistischen Revolutionäre von 1917.
1990 gingen Sie in die USA. War der Fall der Berliner Mauer für Sie wie eine persönliche Befreiung?
Es war vielmehr ein deutliches Zeichen des Niedergangs des sowjetischen Systems. Wir kooperierten damals mit Robotron in Dresden. Ich war dort im November 1989 und erlebte, wie die Ostdeutschen die Grenze überqueren durften und ihr Westgeld bekamen. Alle Erneuerung kam jetzt aus dem Westen, die Leute hatten das Vertrauen in ihr System vollkommen verloren.
Sie selbst wurden 1999 US-Bürger. Warum?
1991 begann ich mein drittes Leben – als Historiker. Ich bekam eine Einladung in die USA, als mein Computerinstitut gerade aufhörte zu existieren. Von meinen Ingenieuren sind heute mehr in Amerika als in Russland. Ich mochte Rhode Island, das Klima ist besser als in Moskau, also fragte ich meine Frau Valentina, ob wir nicht bleiben wollten und die Staatsangehörigkeit annehmen.
Gibt es Leute, die Ihnen diesen Schritt übel nehmen?
Viele sahen das als Verrat an und haben gesagt, wir seien keine Patrioten. Ich denke, ich kann dort drüben ein größerer Patriot sein, wenn ich jungen Amerikanern beibringe, Russland besser zu verstehen, als wenn ich in Moskau sitzen würde, in Depressionen versinke und Wodka trinke.
Und wie reagieren die Amerikaner heute, wenn sie den Namen Chruschtschow hören?
Am Anfang sehr heftig. Aber ich habe einen Freund, David Eisenhower, den Enkel des ehemaligen Präsidenten. Der hat mir mal gesagt, wenn er vor 20 Jahren in einem Restaurant einen Tisch bestellte, sagten die Leute: Was? Der Eisenhower! Wenn er heute anruft fragen sie: Wie buchstabiert man Eisenhower? So geht es mir auch. Wenn ich heute Chruschtschow sage, heißt es: Was für ein seltener Name, sehr kompliziert.

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