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HIV-infizierte Kinder in Berlin: Spielen gegen das Stigma

"Wir wollen keine Aids-Kita sein": In der Berlin-Kreuzberger Kita "Nestwärme" können HIV-infizierte Kinder auch mit Nichtbetroffenen spielen – jetzt wird das Angebot erweitert.

Ob sie noch Zivis bräuchten, ruft Peer übers Tor auf den Spielplatz der Kita. Der junge Mann sieht mit halblangen Haaren und Rollerhelm unterm Arm aus, als wäre er eigens als Zivildienstleistender für eine Vorabendserie gecastet. Zwischen den tobenden Kindern sitzt der Kitaleiter, dem ein Kind die Füße mit Sand zuschaufelt. Hast du einen Führerschein? Peer weiß noch nicht, was es mit dieser Kita auf sich hat, denn von außen ist nichts Besonderes erkennbar.

Den Führerschein braucht man, um in der Kindertagesstätte „Nestwärme“ im Kreuzberger Wrangelkiez zu arbeiten. Jeden Tag holt ein Bus etwa 20 Kinder von zu Hause ab. Die Eltern der Kinder haben Aids, einige der Kinder sind selbst mit dem HI-Virus infiziert. „Betroffene“ werden sie pauschal genannt. In der Kita teilen sie sich mit weiteren 20 nicht betroffenen Kindern Raum und Spielzeug. „Wir wollen keine Aids-Kita sein“, sagt Geschäftsführer Michael Janda, 45. Deshalb wird darauf geachtet, dass Nichtbetroffene und Betroffene gemischt spielen.

Blutende Wunden, wird häufig gefragt, sind doch hochgefährlich für andere Kinder. Bei den Leitern von „Nestwärme“ löst das nur ein mildes, aber doch genervtes Lächeln aus. Gerade nichtbetroffene Eltern haben Berührungsängste. Viele kämen zu ihnen, um ihr Kind anzumelden, ohne dass sie von dem Aids-Bezug der Kita wissen, erzählt der Betreuungsleiter Martin Quente, 35. „Die finden zwar gut, dass es so was gibt, aber für ihre eigenen Kinder wollen sie das dann doch nicht.“ Dabei könnten noch nicht einmal Wunden für andere Kinder gefährlich werden.

Sieben Erzieher kümmern sich um die Betreuung der 40 Kinder, es gibt keine besonderen Vorsichtsmaßnahmen und keine besondere medizinische Behandlung. Das Einzige, das die Aids-betroffenen Kinder hier erleben sollen, ist Normalität. Die Betreuung hat vor allem einen sozialen Hintergrund. Zu Hause sind die Kinder durch die Krankheit der Eltern stark mit den täglichen Problemen von Aids konfrontiert: Körperliche Einschränkungen der Eltern, häufige Arztbesuche, soziale Probleme, vor allem Ausgrenzung, prägen den Alltag. „Die Eltern kommen meist aus sozial schwachen Verhältnissen, viele aus dem Drogenmilieu“, sagt Janda. Für diese Eltern ist es fast unmöglich, einen normalen Kitaplatz für ihre Kinder zu ergattern. „Sie werden mit dem Argument abgelehnt, dass andere Eltern ihre Kinder abmelden, wenn ein HIV-betroffenes Kind in die Kita käme.“

Im Prinzip muss in Deutschland kein Kind mit dem HI-Virus geboren werden. Wenn Medikamente früh in der Schwangerschaft eingesetzt werden, wird die Infizierung verhindert. In Berlin gibt es trotzdem etwa 300 betroffene Kinder, die Hälfte mit Migrationshintergrund aus Afrika oder Osteuropa. „Wir sind stark überrascht worden, wie viele Ukrainer und Russen mittlerweile zu uns kommen“, sagt Janda.

Seit zehn Jahren leitet Michael Janda den Nestwärme e.V., und ihm ist trotz der kindlichen Umgebung anzumerken, dass er ein Unternehmer ist. „Wir sehen Kinder auch immer als Kunden.“ Er erfüllt sich und dem Projekt nun einen Traum, denn er hat ein enormes Bauprojekt ins Leben gerufen. Am 9. Juli wurde der Grundstein für einen 1000 Quadratmeter großen Kitaneubau gelegt. Fast zwei Millionen Euro hat Janda gesammelt, sein größter Trumpf ist die „Unterstützung von oben“. Damit meint er seine Freundschaft zum Regierenden Bürgermeister Klaus Wowereit. Der hatte ihm geraten, bei der Lotto-Stiftung einen Förderungsantrag zu stellen. 1,8 Millionen Euro wurden bewilligt. Weitere 100 000 Euro hat Janda von Privatspendern erhalten, die mit Patenschaften in Gold oder Platin belohnt wurden. Das neue Grundstück an der Ritterstraße in Kreuzberg hat er für einen Euro vom Bezirk bekommen. Jetzt soll dort zusätzlich zu dem bisherigen Standort in der Wrangelstraße ein „Familienzentrum“ entstehen. Weitere 45 Kinder sollen betreut werden. „Natürlich wissen wir, dass Spendengelder mit diesem Merkmal einfacher zu holen sind“, sagt Janda. Immerhin ist es die einzige Kita dieser Art in Europa.

„Als die Kita 1994 gegründet wurde, war das eine reine Selbsthilfemaßnahme, und uns wurde der Vorwurf gemacht, wir würden uns ghettoisieren. Jetzt ist das Gegenteil der Fall. Wir haben mehr und mehr nichtbetroffene Kinder und können behaupten, dass wir ein integratives Betreuungszentrum sind.“ Der Idealfall sei natürlich, dass die soziale Ausgrenzung von betroffenen Kindern aufhöre. „Am besten“, so Janda, „wir würden irgendwann überflüssig.“

So schnell wird das jedoch nicht gehen. Aids, die Krankheit, die für viele ein Gespenst aus den 80er Jahren ist, kommt in Deutschland schleichend zurück. Mittlerweile nimmt das Aids-Risiko wieder leicht zu, die präventive Beratung jedoch weiter ab. Aufgrund fehlender Aufklärung über die Art der Krankheit bleiben die Stigmatisierung und damit die Ausgrenzung der betroffenen Kinder im Alltag bestehen. „Sogar in einem so liberalen Viertel wie Kreuzberg ist die Unwissenheit groß“, ärgert sich Janda.

Nach dem Gespräch mit dem Kitaleiter steht nun der künftige Zivildienstleistende Peer im Spielzimmer. „Das mit dem Aids hat mich dann doch überrascht“, sagt er. „Aber als mir der Leiter sagte, dass es keine Ansteckungsgefahr gibt, dachte ich, das ist doch hier genauso wie jede andere Kita – nur interessanter.“Justus von Daniels

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