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Berlin: Stadt der Engel

Zwanzig Jahre nach seiner Premiere kam „Der Himmel über Berlin“ von Regisseur Wim Wenders jetzt wieder ins Kino Zwei Berliner, einer aus dem alten Westen, einer aus dem alten Osten, erinnern sich an die Stadt, vor deren Kulisse der Film damals spielte

Merkwürdig grau und duster“ sei ihm Berlin 1987 erschienen, sagte Wim Wenders vor kurzem. Genau richtig: Grau war West-Berlin, aber grau in wunderbaren Schattierungen, stahlgrau wie die Träger der Hochbahn, schwarzgrau wie das elegante Dach der Neuen Nationalgalerie, rußgrau wie die Fassade des Reichstages, der in der Gegend stand wie ein gigantisches Stück Sperrmüll der Geschichte, halb vergessen und meistens sinnlos. Berlin war leicht verschwommen gehwegplattengrau, wenn man frühmorgens nach einer langen Nacht nach Hause ging, immer auf diesem schönen breiten geraden Strich. Berlin-West war granitgrau wie der Grabstein von Gottfried Benn, der über die geteilte Stadt mal pathosbeflügelt geschrieben hat: „...wenn die Heere und die Horden über unseren Gräbern sind... werden noch die Trümmer sprechen von dem großen Abendland.“

Von wegen Horden und Trümmer – 1987 war das Frontstadtpathos längst verblichen. Die Stadtfarbe West mochte grau sein, aber man lebte auf einem großen Abenteuerspielplatz. Berlin war ein graugrünes Ökotop, mit vielen grauen, frontstadterprobten Rentnern, gewiss, aber genau wie heute dahinter, daneben, darunter war Berlin-West eine junge Stadt, ein Großversuch für junge Leute, die vor leeren Räumen keine Angst hatten.

In der düsteren, großräumigen, windigen Stadtlandschaft sind Wenders die vielen ergrauten Engel aufgefallen. Er war zuvor lange in Amerika gewesen, wo man selten Engel über Häuser oder in Parks wachen sieht. Auch die West-Berliner haben die vielen Engel in der Stadt wohl kaum noch wahrgenommen – mit den Engeln war es wie mit der Mauer. Nur GoldElse ragte in den Himmel, weniger als Engel denn als olles, vollbusiges Siegeszeichen. Man hatte es hier schon damals nicht mit engen Beziehungen zum Himmel.

Kein Wunder, bei so viel freier Fläche, all diesen großen leeren Straßen, angesichts der vielen großen alten Wohnhäuser der Fabriketagen: Platz genug für alle. Man spürte ein fast amerikanisches Lebensgefühl in West-Berlin. Das gab es in keiner westdeutschen Stadt. Man musste sich nicht nerven, man konnte sich leicht aus dem Weg gehen, räumlich und zeitlich, denn die Stadt, die halbe, war immer geöffnet, rund um die Uhr. Staus gab es nur, wenn alle West-Berliner kollektiv Richtung Westen in Urlaub fuhren – der ausnahmsweise Stau als Gruppenerlebnis. Wer aber um halb zwölf einen Arbeitsplatz in der Staatsbibliothek suchte, hatte nie Probleme. Heute, hört man, kommen die Leute am frühen Morgen, des Andrangs wegen. Wer Bilder sehen wollte, wunderbare, wertvolle, große alte Bilder, ging in die wunderbaren Museen. Niemand musste sich anstellen, schon gar nicht in einer Schlange, die sich um das ganze Gebäude wand.

Warten war 1987 noch kein Event, und vielleicht lebte man deshalb so entspannt in der Stadt, die doch unausgesprochenerweise darauf wartete, wieder an den westlichen Hochgeschwindigkeitsproduktionsbetrieb angekoppelt zu werden, mit allem, was dazugehört: Politbuhei, möglichst in historischer Kulisse. Touristenrekorde. Jedes Wochenende ein massenwirksames Ereignis, das ist gut fürs Wirtschaftswachstum.

Heute ist alles schön bunt hier, und das ist auch gut so. Denn bei aller Sympathie für das 1987er Grau der Halbstadt war eben auch die Mauer grau, und zwar leuchtend hellgrau, jedenfalls auf östlicher Seite. Und bei aller Liebe zum weiten, rummelfreien Stadtraum hörte man an dessen grau ummauerten Rändern manchmal Schüsse. Wer die nicht verdrängte, sondern wahrnahm, kam um den Gedanken nicht herum: Da drüben braucht jetzt jemand einen sehr guten Schutzengel.

Auch der Himmel über Berlin war geteilt, aber man hat es nicht gespürt. Die Mauer war nicht hoch genug, um die Radio- und Fernsehstrahlen „von drüben“ abzuwehren. „Drüben“ war für den Ost-Berliner der Westen. Was drüben passierte, hat ihn nicht kaltgelassen. Er wusste Bescheid. Aber immer nur vom Hörensagen. Oder vom Augen-Blick durch die gläserne Mattscheibe. Das Original blieb ihm verwehrt. Kein Ku’damm und kein Zoo-Palast. Dort kam im 750. Jubiläumsjahr seiner Stadt ein Berlin-Film auf die Leinwand, mit Stars besetzt und mit Lorbeerkränzen behängt. Wir aber bekamen über das West-Fernsehen nur die üblichen Schnipsel zu sehen, wenig genug für Spannung auf einen Film, in dem menschliche Engel immer an der Wand langliefen oder auf der Siegessäule saßen und meditierten. Ein poetisches Märchen in der ganzen geteilten Stadt? Oder, wieder einmal, nur über den Westen?

Als die Mauer verschwunden war, erfuhren wir, dass Wim Wenders versucht hatte, den Segen des DDR-Kulturministers zu bekommen, um auch in Ost-Berlin zu drehen. Als der Genosse erfuhr, dass nicht einmal ein kritisch zu beäugendes Drehbuch vorhanden war und westliche Engel „einfach so“ durch die Mauer huschen sollten, sprach er: Nie und nimmer wird so etwas bei uns gedreht. Dass dennoch ein paar Ost-Straßen stattfinden, verdanken wir dem Kameramann, der aus dem Auto heraus eine Straße filmte, die sich nicht von einer West-Straße unterschied, außer, dass da ein paar Trabbis am Rande herumstanden.

Nach 1989 konnten wir uns endlich den Film ansehen. „Das ist schon Kult“, sagten die Westfreunde, „da ist Berlin, wie es leibt und lebt“. Na, dachte ich, wird ja ’ne richtige brausende Weltstadt sein. Es kam aber weder ein Action- noch ein Heimat- oder Dokumentarfilm über uns, sondern ein wundersames Opus, in dem zwei menschliche Engel mit starren Augen und steifen Gesichtern durch die Szene schritten. Dies sollte das brausende West-Berlin aus dem Fernsehen sein, die Stadt mancher Sehnsüchte? Es war so dröge und langweilig wie die Brandmauern, die sich da immer wieder ins Bild drängten. Eine fremde, gestelzte Sprache überkam uns, selbst noch an der Bratwurstbude. Hatten wir es in den Jahren realsozialistischer Klischeewirtschaft verlernt, poetische Worte und symbolische Bilder zu entschlüsseln? Waren uns Engel fremd geworden, oder suchten wir das reale Leben im Film? Da war man bei Wenders wohl an der falschen Adresse.

Mich berührten diese Flugzeuge, wie sie grenzenlos über die umwölkte Stadt flogen und den Himmel zerpflügten. Lustig und verträumt waren die Kinder, so unbeholfen wie die Magnetschwebebahn, mit der niemand etwas anzufangen wusste. Zweimal haben Statisten so geredet, wie das in dieser Stadt üblich ist: Ein Mädchen sagt „Der is zu dumm, ’n Loch in’n Schnee zu pissen“, und ein paar Jungen wundern sich über Peter Falk: „Is det etwa Columbo? Quatsch. Der rennt doch hier nich durch de Pampe.“

20 Jahre später sehen wir das Stück mit anderen Augen: Die Mauer weg – Filmgeschichte. Die Stadt vibriert, die Leute haben andere Gedanken als damals; die Hauptakteure sind auch uns ans Herz gewachsen: Bruno Ganz, Otto Sander, Peter Falk. Und schon immer Curt Bois, den man einst im Berliner Ensemble treffen konnte, dessen Memoiren in der DDR den schönen traurigen Titel trugen: „Zu wahr um schön zu sein“. Wenn er an der Schwelle zum Niemandsland auf der Suche nach Café Josty über die Brache stolpert, dann wird der Film, auch und gerade heute, zum Ereignis: Da steht, was Homer suchte, aber nur im Klang einer Spieluhr im Andenkenladen fand: der Potsdamer Platz. Neu. Anders. Beliebt, belebt. Und oben warten die Engel. Lothar Heinke

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