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Lenné-Dreieck

© Doris Spiekermann-Klaas

Stadtgeschichte: Verschollen im Lenné-Dreieck

Vor 20 Jahren kam ein Stück Ost- zu West-Berlin. Und wurde von Alternativen besetzt. Stephan Noé war dabei.

Stephan Noé erinnert sich. „Drüben stand der Maueraussichtsturm, da ein Kiosk, hier gegenüber vom Esplanade war der Eingang zum Hüttendorf an der Bellevuestraße.“ Noé steht auf der seltsam sterilen Mini-Grünfläche vorm Beisheim-Center. Er fröstelt. „Hier ist nur Kälte entstanden. Wo sind die Leute?“

Er blickt auf die Gebäude mit dem Ritz Carlton, spricht von verpassten Chancen für eine lebendige Stadtmitte. Was hier entstand, bleibt ihm fremd. Noé zählte zu den rund 600 Besetzern, die hier, wo Beton, Glas und etwas Gras zu sehen sind, einst ein Hüttendorf gründeten und es zum rechtsfreien Raum erklärten. Er war sozusagen der Bürgermeister des Dorfes.

Lange her. Dass es so kam, hat seinen Ursprung vor genau 20 Jahren. Am 31. März 1988 wurde der Gebietsaustausch vereinbart, bei dem – mit Wirkung zum 1. Juli – rund 40 000 Quadratmeter des „Lenné-Dreiecks“ von Ost- an West-Berlin fielen: die Fläche zwischen Lenné-, Ebert- und Bellevuestraße. Die Lennéstraße war von Wildwuchs überwuchert, auf der Ebertstraße stand die Mauer, die Bellevuestraße gehörte zum Westen. Hier stand nur die Halbruine des alten Hotels Esplanade, das heute als „Residence“ hinterm Glas des Sony-Centers steckt. Das Lenné-Dreieck – das war nicht eingemauertes Ost-Berlin, von Westen aus ein gefühltes Stück Tiergarten, unberührtes Biotop, viel Gras, 160 Pflanzensorten. Hinweistafeln warnten vorm Verlassen des britischen Sektors.

Das letzte Haus des Dreiecks wurde 1956 abgerissen, das Columbushaus von Erich Mendelssohn an der Ebertstraße. Das markante Gebäude brannte während des Volksaufstandes vom 17. Juni 1953.

Der Senat war auf das Gelände, das wie eine spitze Nase in den Tiergarten ragte, schon lange scharf. Schon Anfang der siebziger Jahre hatte West-Berlin südlich vom Potsdamer Platz einstiges Bahngelände von Ost-Berlin erworben, um eine bessere Nord-Süd-Straßenverbindung am Haus Huth entlang zu schaffen. Dort sollte, hart an der Mauer, später auch das erste Tempodrom-Zelt Platz finden.

Nun bekam der Senat im Austausch mit anderen sehr viel kleineren Flächen diesen merkwürdigen Zipfel und zahlte insgesamt 76 Millionen D-Mark. Was er mit dem Dreieck anfangen wollte, war absehbar und weniger unklar als die früheren Eigentumsverhältnisse, wie sich später nach dem Bau des Beisheim-Centers und den Ansprüchen von Wertheim-Erben zeigen sollte. Zunächst aber wurde eine Tiergarten-Erweiterung diskutiert, auch ein möglicher Standort für das Deutsche Historische Museum. Aber da gab es eben die alten Pläne für die autobahnähnliche Westtangente von Schöneberg nach Wedding. Das Dreieck hätte Platz für die Tangente geben können.

Die Bürgerinitiative Westtangente schlug Alarm, im Mai kamen die ersten Besetzer, darunter friedensbewegte „Müslis“, Alternative, Hasskappenträger und Leute des früheren westlichen SED-Ablegers SEW. Sie beanspruchten das Niemandsland, das erst im Juli offizielles West-Berlin werden sollte. Sie vertrugen sich, waren sich vor allem einig „im Verhindern einer Autobahn“. Sie gründeten aus Zelten und Bretterbuden ihr Hüttendorf im Schatten der Mauer, in der sich zuweilen ein Türchen öffnete und Grenzsoldaten gelangweilt das Verlassen des Geländes forderten. Dann schloss sich das Türchen, das war’s.

Das Hüttendorf fühlte sich sicher im Windschatten der DDR-Truppen hinter der Mauer und bedroht angesichts der aufgefahrenen West-Polizei. Es gab sich alternativ und wehrhaft, auch aggressiv. Das Dorf wurde nach und nach zur Festung, schlug sich mit der Polizei, das SED-Parteiorgan „Neues Deutschland“ schrieb genüsslich von „bürgerkriegsähnlichen Zuständen in Berlin (West)“. Tränengas, Molotowcocktails wechselten die Seiten, es loderten ungeklärte Brände. Das Leben ging aber auch friedlich zu, es gab eine große Küche, Plumpsklos, sogar einen Sender, Radio Sansibar, auch Führungen für Touristen, die Geld spendeten. Selbst ein kleiner Zoo war vorhanden, der heutige Wirtschaftssenator Harald Wolf spendete eine Ziege.

Stephan Noé wohnte zwischendurch ganz normal, hatte als Charlottenburger Bezirksverordneter der Alternativen Liste (AL) ohnehin noch anderes zu tun. Aber er vertrat das Dorf nach außen, vermittelte Kontakte zu Behörden und Polizei. Doch die gereizte Stimmung auf dem Gelände, das die Besetzer nach dem Selbstmord eines Häftlings „Kubat-Dreieck“ nannten, eskalierte am 1. Juli. Da gab es das Recht zur Räumung, rund 200 Besetzer kletterten über die Mauer in den Osten, wo, wie bestellt, Lastwagen der Grenztruppen standen und die Flüchtlinge freundlich abtransportierten.

Die Ost-Berliner Behörden müssen vorab über die einzigartige, aufsehenerregende Flucht in ungewohnter Richtung informiert gewesen sein, für Noé, der nicht in den Osten kletterte, ist das noch heute ein Rätsel. Die Geflüchteten bekamen in der Stasi-Zentrale an der Normannenstraße ein Frühstück mit auffallend fetter Wurst und wurden anschließend mit frisch besorgten West-Fahrkarten am Bahnhof Friedrichstraße in die U-Bahn Richtung Westen gesetzt. Senatsbehörden begannen, auf dem Gebiet Kriegsmunition zu suchen, zu roden und zu „schreddern“, wie Noé formuliert.

Noch Wochen nach der Räumung protestierten Ex-Besetzer auf dem Wittenbergplatz gegen die „zerstörerische Betonpolitik des Senats“. Beton ist reichlich auf dem Lenné-Dreieck entstanden: Räume für Anwälte, Makler, Verbände, Hotels und Appartements. Eine neue Straße heißt „Berliner Freiheit“. Medienberater Stephan Noé, heute 51 Jahre alt, mag das Dreieck trotzdem nicht. „Keine Welt für mich.“ Nicht mehr.

Christian van Lessen

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