zum Hauptinhalt

Aufblühende Hauptstadt: Frühling in Berlin: Wie zum ersten Mal

Das frühsommerliche Intermezzo ist vielleicht nur von kurzer Dauer, also sollte man es nutzen. Berlin findet wieder draußen statt. Und jeder begrüßt den Frühling auf seine Art.

INS SCHWITZEN KOMMEN

Es ist früh, ich bin müde, der Tag will sich noch nicht ganz entscheiden, ob er wirklich ein sonniger sein möchte oder lieber nicht, ich steige auf mein Rad, Richtung Redaktion, dünne Mütze, dünner Schal, dünne Lederjacke. Von Kaschmir und Wolle habe ich mich bereits vor Tagen verabschiedet. Und dann das: 50, 100, 200 Meter. Mir ist warm. 450, 500 Meter. Mir ist richtig warm. Ich nehme Mütze und Schal ab, doch es nützt nichts. Ich öffne die Jacke, darunter nur ein T-Shirt, der Fahrtwind pustet mir entgegen, doch er ist weich und tut nicht weh. Kein Bibbern. Kein Frieren. Ich bin zu dick angezogen. Zum ersten Mal. Ich schwitze. Zum ersten Mal. Ich hasse es zu schwitzen, doch heute ist es schön. Morgen darf mir das nicht mehr passieren. Noch drei Kilometer.  Franziska Klün

DEN BALKON ZURÜCKEROBERN

Beim Einrichten kann es zugehen wie beim Beamten-Mikado: Wer sich als Erster bewegt, hat verloren. Vergangenes Jahr wollten wir die ersten sein, die den grauen Balkon wieder bunt beleben, kauften Ende März kistenweise Frühblüher bei der Gärtnerei um die Ecke. Nach einem Tag voller Buddeln und Rupfen und Pflanzen sah der Balkon aus wie ein Foto aus „Schöner Wohnen“. Dann fiel die Temperatur noch mal abrupt gen Null, und mit ihr die Köpfchen der Stiefmütterchen. Mit dem Debakel im Hinterkopf verfolgen wir seit Tagen die Wettervorhersagen wie Börsenmakler Aktienkurse. Eine Bauernregeln lautet: „Vor Nachtfrost du nie sicher bist, bis Sophie vorüber ist“. Sophie ist die letzte der Eisheiligen, ihr Tag der 15. Mai. Müssen wir also noch sechs Wochen lang den grauen, leeren Balkon ertragen, während bei den Nachbarn die Blüten leuchten? Egal – bei den ersten vorsichtigen Sonnenbädern in diesen Tagen haben wir eh die Augen geschlossen. Und siehe da: Glücklich machende Endorphine produziert die Frühlingswärme auch auf kargen, unbepflanzten Balkonen. Lars von Törne

IM FREIEN BIER TRINKEN 

Nachts um elf, Eckkneipe an der Wiener Straße. Gäste sitzen draußen um halbherzig lackierte Sperrholztische, der Kellner müsste eigentlich genervt sein wegen der weiten Wege, die er jetzt wieder laufen muss. Ständig rein und raus, aber ihm geht’s gut. Meine Begleitung hat Blümchenmotive auf ihren Schuhen, wir stoßen an, endlich Aufbruchstimmung. Wir schwören uns, dass 2011 das Jahr der Badeseen wird. Der Mann vom Nebentisch nimmt sein Glas und verzieht sich nach drinnen, vielleicht vermisst er den Rauchgestank. Selbst schuld. Jeder geschlossene Raum ist ein Sarg, sagt meine Begleitung. Verdammt, das lag mir auch grad auf der Zunge. Sebastian Leber

DEN SPIELPLATZ BEVÖLKERN

Der erste Besuch des Jahres beginnt mit einer Enttäuschung, das Kind ist untröstlich: Die Eichhörnchen sind weg. In den vergangenen Monaten haben wir sie nachmittags auf dem Heimweg von der Kita beobachten können, im Vorbeigehen. Das Gelände war menschenleer, die zwei Nager huschten zwischen den Schaukeln und der Rutsche umher. Nun sind sie nicht mehr da. Verdrängt von dutzenden Familien, die an diesem Nachmittag auf den Spielplatz an der Gaudystraße in Prenzlauer Berg strömen. An den Schaukeln bilden sich Schlangen, auf der Rutsche streiten sich zwei Kinder darum, wer als erstes dran ist. Vor der kleinen Holzhütte veranstalten Mädchen ein Picknick mit Zwieback, Gummibärchen und Caprisonne, alles wird gerecht geteilt. Am Rand stehen Eltern, die entspannt in die Sonne blinzeln. Es könnte so schön sein – wenn die Eichhörnchen noch da wären. Ein Kind sagt, die würden Frühjahrsschlaf machen. Nana Heymann

TISCHTENNIS SPIELEN

Schläger und Bälle liegen schon bereit, bevor es ernsthaft losgehen kann. Für das erste Ping-Pong-Spiel im neuen Frühling muss es nämlich unbedingt warm genug sein für allerhöchstens eine Strickjacke überm T-Shirt. In Winterjacken ist man einfach nicht beweglich genug für gefährlich angeschnittene Bälle. Auch deshalb ist das erste Spiel so ein tolles Fanal für die Freiluftsaison. Endlich wieder Bewegung plus Spaß ohne Fitnessgebühren und Brimborium. Dass es in Berlin überall Tischtennisplatten gibt, die man jederzeit benutzen kann, empfinde ich als reinen Luxus. Darüber freue ich mich bis weit in den Oktober hinein. Meine Lieblingsplatten befinden sich an der Bellevueallee zwischen Schloss Bellevue und Potsdamer Platz. Ringsum Bäume, Wiesen, pure Natur. Ich führe 17 zu 15, und der Abend wird lang. Elisabeth Binder

KUGELN BESTELLEN

Schon bei der ersten flüchtigen Begegnung ist alles wieder da: Bilder von unbeschwerten Sommertagen, Beinen, die im Wasser baumeln, Freunden, die lachend warnen: Vorne läuft es! Und schlagartig kommt das Verlangen. Zitrone oder Schokolade? Pistazie oder Waldmeister? Alles, ich will alles und bedauere wie in jeder Saison, dass das Eis hierzulande kugelweise und nicht nach Gewicht verkauft wird, wie vielerorts in Italien, wo kleine Mengen verschiedenster Sorten versucht werden dürfen. Fast zittert meine Hand, als ich sie nach dir ausstrecke, so sehr ersehne ich die Berührung. Da, endlich triffst du, kühles Glück, auf meine Zunge, zerschmilzt, raubst mir die Sinne. Es ist das Wiederaufleben einer alten Liebe. Du und ich. Selig. Maris Hubschmid

AUSGEFLIPPTE OUTFITS BESTAUNEN

Einmal morgens U-Bahn gefahren, dreimal die Augen gerieben und gelacht. Übermut tut eben gut. Besonders bei Klamotten, wenn endlich die öden dunklen Wintermäntel und Stiefel eingemottet sind. Schnarr, da rollert ein pfeilschnelles Girlie den Bahnsteig entlang. Alle Köpfe fahren herum, als sie vorbeizischt. Auf Rollschuhen? Nee, auf dem Absatz ihrer Turnschuhe. Die haben offensichtlich Räder dran. Verrückt. Genauso wie die Frau da drüben: kirschrote Haare zum kirschroten Mantel. Gewagter Farbrausch. Dazu hat sie einen zottigen grauen Gremlin umgehängt mit orangefarbenem Schnabel und Tatzen dran. Hilfe, das Biest ist eine Tasche. Trash oder Trend? Egal, Hauptsache bunt, Hauptsache Gimmicks, Hauptsache Haut. Die zeigt ein frühes Mädchen trotz Morgenfrische von der Wade abwärts. Rosa Zehen, Jesuslatschen – da seid ihr ja. Gunda Bartels

KOHLEN IM KELLER LASSEN

Es ging an die Substanz, um nicht zu sagen: Es gibt nichts Ekelhafteres, als nach einem langen Arbeitstag noch zwei Eimer Kohlen vom Keller in den vierten Stock hochschleppen zu müssen. 95 Stufen, die jede für sich die Frage aufwerfen: Wann kommt der Frühling? Dementsprechend wunderbar war der Donnerstag. Zum ersten Mal nicht vom Fahrrad direkt in den Kohlenkeller, zum ersten Mal nicht schweißgebadet in der Wohnung ankommen, nicht vor den Ofen knien, keine Aschewolke. Einfach leicht und frei aufs Bett legen, sich durchs halb geöffnete Fenster von milder Luft umfächeln lassen. Und dann verachtungsvoll auf dieses Ding in der anderen Zimmerecke blicken. Johannes Schneider

DEN GARTEN WIRKEN LASSEN

Da! Ein wenig Grün wagt sich aus dem Boden. Winzige Knospen. Den Gartenbesitzer durchströmt jetzt warme Vorfreude. Zwar steht auch Arbeit an – der Rasen muss vertikutiert und gedüngt, Sträucher wollen beschnitten, Töpfe neu bepflanzt werden. Das ist es aber nicht allein, was das Glücksgefühl auslöst. Es ist die Verheißung der kommenden Monate. Aus der Enge des Hauses in die Weite des Gartens, ins Licht, an die Luft zu kommen, nicht für Stunden, sondern ganztags. Vor dem geistigen Auge hängt schon wieder die Hängematte zwischen den Obstbäumen. Als ich noch am Kollwitzplatz wohnte, hatte ich ja keine Ahnung, was so ein Garten für Wirkungen hat. Fatina Keilani

DEN TEUFELSBERG BESTEIGEN

23 Grad? Na dann raus, hinauf auf 115 Meter Höhe. Im Winter ist’s auf dem Teufelsberg lebensgefährlich (Rodler), im Herbst ebenfalls (Lenkdrachen), im Sommer steht man oben in der Hitze und denkt doch wieder nur an den Abstieg. Kurzum: Jetzt ist Frühling, jetzt ist’s ideal. Der Teufelsberg mag nicht der höchste Hügel der Stadt sein, aber von hier ist der Blick auf die Silhouette klarer als von den Müggelbergen. Gestatten, von links nach rechts: Kraftwerk, Flughafen, Fernsehturm, vorn die alte SFB-Zentrale und hinten das neue Hochhaus am Zoo, in dessen Scheiben die Frühlingssonne glitzert. Doch es gibt nicht nur was zu gucken, sondern auch zu hören: Wer am Sonntag oben ist, kann sich ins Gras legen und dem Raunen der 70 000 Hertha-Fans aus dem Olympiastadion lauschen. Die haben den Aufstieg noch vor sich. André Görke

Zur Startseite

showPaywall:
false
isSubscriber:
false
isPaid:
showPaywallPiano:
false