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Berlin Bücher: Als die Stadt noch Flair hatte

Paradies zwischen den Fronten. Reportagen und Glossen aus Westberlin.

Minus 17,7 Grad Celsius wurden am 4. Januar 1971 um Mitternacht auf dem Flughafen Tempelhof gemessen. Rudolf Lorenzen begann mit seiner Reportage über den Betrieb auf einem Flughafen, den es so nicht mehr gibt. Auch die Stadt, die über diesen Flughafen mit der westlichen Welt verbunden war, gibt es so nicht mehr – Lorenzens „Paradies zwischen den Fronten“. Berlin (West) und das berlinische Leben in den sechziger und siebziger Jahren sind Lorenzens Themen, und immer beginnen seine Texte mit einem Moment im Alltag der Stadt und entwickeln daraus das Panorama eines seltsamen Ortes, der heute sehr weit entfernt erscheint.

„Flair“: Das ist es, was Lorenzen empfunden und beschrieben hat. Berlin ist heute cool, damals hatte Berlin (West) Flair, und Lorenzen, der 1955 in die Stadt gekommen war, hat viel Gefühl für diese Verbindung aus Eleganz, Besonderheit und Berliner Robustheit gehabt. Seine Reportagen schrieb er für ein Publikum, das interessiert und staunend auf diese Stadt sah – und vor allem geduldig, interessiert an Einzelheiten, lesefreudig. 21 Seiten lang ist die Reportage über 680 Kilometer Berliner Wanderwege, 14 Seiten waren ihm die Binnenschiffer wert.

Das Tempo der Texte, ihr trockener Humor, ihre gepflegte Sprache und ihre Un-Schrillheit erinnern eher an Fontane als an das, was heute gelegentlich als Reportage verkauft wird. Entsprechend tiefenscharf wird der Blick auf Berlin, den Lorenzen ermöglicht – auf die Atmosphäre im ersten Fitnessstudio, wo man noch nach Geschlechtern getrennt trainierte, auf den Wintersportort Berlin (schon damals musste der Berliner eigentlich nicht weg, denn hier hatte er alles), auf den Saisonbeginn der Weißen Flotte und auf die Konfrontation der Stadt mit dem Bikini. Nah und weit entfernt erscheint dieses Berlin, seltsam und liebenswert, von ganz eigenem Flair durchweht – eigenartig. Kein Ort in dieser Stadt aber wirkt heute entrückter als die Exklave Steinstücken, deren Nachkriegsgeschichte Lorenzen als Reportage geschrieben hat. Kaum zu fassen ist, dass es das gab: ein Stadt-Teil, dessen dem Westen zugeschlagene Bewohner eine Zeit lang der DDR-Verwaltung unterstanden. Damals schien Steinstücken in einer anderen Welt zu liegen. Inzwischen liegt es wieder zwischen Berlin und Potsdam. Werner van Bebber

Rudolf Lorenzen:

Paradies zwischen den Fronten. Reportagen und Glossen aus Berlin (West). Verbrecher Verlag, Berlin. 226 Seiten, 12 Euro

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