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© Kitty Kleist-Heinrich

Türken in Berlin: Der Spurensucher

In Berlin leben 170 000 Türken. Ihre Geschichte beginnt vor mehr als 300 Jahren im Schloss Charlottenburg, und keiner kennt sie so gut wie Gültekin Emre. Eine überraschende Stadtführung.

Berlin und die Türken“, sagt Gültekin Emre und lächelt erwartungsvoll, als verrate er ein Geheimnis, „das hat genau hier angefangen“. Nicht in den Gastarbeiterheimen im Wedding der 60er Jahre, nicht in Kreuzberg, in Neukölln oder in irgendeinem Werk in Spandau. Sondern vor mehr als 300 Jahren, in dem gelben Barockgebäude, vor dem Gültekin Emre, 56, Schiebermütze, Cordhose, jetzt steht: dem Schloss Charlottenburg.

Aly und Hassan waren die ersten Türken in Berlin, erzählt Emre mit rollendem Akzent. Die beiden lebten Haus an Haus, wenige hundert Meter vom Schloss entfernt. 1684 werden die jungen Männer als Geschenk für Kurfürstin Sophie-Charlotte nach Berlin verschleppt, man findet es schick, etwas Exotisches zu besitzen. Einen Türken zum Beispiel. Einen wie Aly oder Hassan, mit dunkler Haut, mit Turban und schwarzem Moustache über der Oberlippe. Die beiden sollen am Hof als Kammertürken dienen – „wenn man so will“, sagt Emre, „waren sie die allerersten Gastarbeiter.“

Gültekin Emre hat schon oft vor diesem Haus gestanden und die Geschichte von Aly und Hassan erzählt; es ist seine Lieblingsgeschichte.

Kurz zuvor sitzt er noch in seiner Steglitzer Wohnung an einem großen Tisch, rührt ein Stück Zucker in seinen nachtschwarzen Mokka und vertieft sich in die Vergangenheit: Kopien von Kupferstichen, Briefverkehr bei Hofe, eine Kammertürkin aus preußischem Porzellan. Emre verteilt die Hinweise auf dem Tisch wie die Karten eines Memoryspiels. Er beugt den Kopf darüber, rückt seine Brille zurecht und nickt. „Aly und Hassan waren stadtbekannt“, sagt er, „die meisten Berliner hatten ja noch nie einen echten Türken gesehen.“

Seit drei Jahrzehnten erforscht der Lehrer und Autor die Spuren seiner Landsleute in Berlin; er hat vor einigen Jahren ein Buch geschrieben: „300 Jahre Türken an der Spree“. Als er 1980 aus Ankara kam, fing er sofort an, Bibliotheken und Archive nach türkischen Spuren zu durchforsten. Er durchblätterte muffige Bücher, sortierte angegilbte Fotos von Studenten, Waisenkindern und Politikern.

Und immer, wenn er einen Hinweis fand, fuhr er los und schaute, was noch geblieben war: vielleicht eine Hausnummer, ein Grab, ein Pflasterstein.

Heute gibt es mehr als 170 000 Türken in Berlin, und dass sie eine Geschichte haben jenseits der Fabriken und Arbeiterheime, sagt Emre, wissen die wenigsten. Deshalb macht er Stadtspaziergänge durch die Deutsch-Türkische Vergangenheit. Manchmal mit Schulklassen, manchmal mit Vertretern der türkischen Gemeinde, manchmal mit seiner Frau.

Die Tour beginnt vor Alys Haus, ein dreistöckiger Barockbau mit Säulen und prachtvollen Balkonen. Kurz nach ihrer Ankunft in Berlin werden die jungen Türken getauft, Friedrich Aly und Friedrich Wilhelm Hassan heißen sie fortan. Gültekin Emre kramt die Kopie eines Ölgemäldes hervor. „Das Tabakskollegium Friedrich der II.“, heißt es, darauf ist vermutlich Aly zu sehen, sagt er: Mit rotem Kaftan und weißem Turban reicht er rauchenden preußischen Perückenträgern Tee in orientalischen Gläsern. „Kammertürke zu sein war gar nicht so schlecht“, sagt Emre, „die haben gut verdient, schöne Häuser bekommen, in bester Lage. Und sie hatten es nicht weit zur Arbeit.“

Als nächstes führt die Geschichte Gültekin Emre auf den islamischen Friedhof am Columbiadamm. Von weitem sieht man die goldenen Halbmonde der Minarette über den Tannen glänzen. Obwohl es kalt ist, sitzen im Innenhof der Moschee ein paar ältere Herren auf Klappstühlen und drehen ihre Gebetsketten zwischen den Fingern. Ein marmorner Obelisk, weiß und braun, steht als Gedenkstein vor der Moschee, er erinnert an die ersten Gesandten des Osmanischen Reiches, die in Berlin begraben wurden.

Der erste Gesandte kam im Jahre 1763 an den preußischen Hof, auf dem Kupferstich in Gültekin Emres Händen ist ein Mann mit grauem Vollbart und prächtigem Turban auf einem Pferd zu sehen. Ein bisschen sieht er aus wie Emre selbst, der sich in diesem Moment über den eigenen grauen Vollbart streicht. Die Zeit der Türkenkriege sei vorbei gewesen, man habe die Beziehungen ausbauen und den Handel antreiben wollen. „Und in Berlin bricht damals eine wahre Türkenzeit aus.“ Alles, was mit den Türken zu tun hatte, sei plötzlich in Mode gewesen. „Datteln essen gehört jetzt zum guten Ton in Berlin und die Gecken pflanzen sich einen Turban aufs Haupt“, spottet selbst der Preußenkönig in einem Brief.

Einige Jahre später kommt der zweite offizielle Gesandte nach Berlin, er stirbt nach wenigen Monaten. Eine Überführung ist mit den damaligen Verkehrsmitteln schwer zu organisieren, also befiehlt der König, ein Grabgewölbe für den Botschafter anzulegen, auf der Tempelhofer Feldmark, unweit der Hasenheide. „Der Leichenzug des Gesandten, in seiner den Berlinern vollständig neuen Art, erregte ungewöhnlichen Zulauf“, steht in der Zeitung: Der grüne Sarg wurde mit einem Leiterwagen durch die Friedrichstraße transportiert, die Diener warfen den Zuschauern am Straßenrand Münzen zu.

Mitte des 19. Jahrhunderts kommt es zu weiteren Todesfällen in der Gesandtschaft, ein neuer Friedhof am Columbiadamm wird eingerichtet. Die Marmorsäule kommt mit. Und auf einigen der schiefen, verwitterten Grabsteine sind heute noch ganz schwach die arabischen Schriftzeichen zu erkennen.

Während seiner Suche nach der Deutsch-Türkischen Geschichte hat Gültekin Emre viel Material gesammelt: Zeitungsausschnitte, Handelsverträge, Tabakdosen, Fotos, Werbeanzeigen. Überall in seiner Wohnung, in den Regalen und Schubladen hat er Beweismaterial gehortet. Wie die schwarz-weiße Fotografie von 1917, die er jetzt aus dem Umschlag zieht: Sie zeigt 292 türkische Schüler, alle zwischen 14 und 16 Jahre alt. Aufgereiht wie kleine Soldaten stehen sie in einer Berliner Straße und warten darauf, zugewiesen zu werden; sie sollen bei preußischen Handwerkern in die Lehre gehen.

Die meisten von ihnen, erklärt Emre, seien Waisen gewesen, die ihre Eltern im Krieg verloren hätten. Die Schülerhilfe sollte ein Beweis des gegenseitigen Wohlwollens sei, um die Beziehung zwischen Kaiserreich und Konstantinopel, die so genannte Waffenbrüderschaft im Ersten Weltkrieg, zu stärken. Ende 1917 lebten bereits 382 türkische Schüler in Deutschland. 50 davon in Berlin, einige bei Gastfamilien, die meisten aber in der Herthastraße im Grunewald.

Das ist die nächste Station von Emres Führung: Das Türkenheim in der Herthastraße. Vor einem Gründerzeithaus bleibt er stehen und zieht wieder ein Bild hervor: Da posieren die Jungen auf dem Balkon einer weißen Villa. Efeu rankt an der Fassade hoch. Die Schüler tragen schwarze Anzüge mit Krawatte und Einstecktuch. Auf den Köpfen haben einige den Fes, einen türkischen Filzhut. In Chemiefabriken, Milchwirtschaftsbetrieben und Förstereien sollten sie in die Lehre gehen.

Heute ist der Efeu verschwunden, das Haus aber steht noch genauso da wie vor 90 Jahren: ein bisschen Fachwerk am Erker, Buchsbäumchen am Treppenaufgang, alles hübsch ordentlich. Einmal, sagt Emre, habe er den Besitzer angesprochen und ihm von der türkischen Vergangenheit seines Wohnhauses erzählt – er hatte keine Ahnung.

Die nächste Deutsch-Türkische Begegnung führt Herrn Emre zum Pariser Platz, zum Hotel Adlon. Am 23. Dezember 1917 hätten hier große rote Flaggen mit weißem Halbmond auf dem Dach geweht, sagt er, denn der Prinz, der letzte Sultan der Türkei, sei zu Gast in Berlin gewesen, zusammen mit Kemal Atatürk. Der war zu diesem Zeitpunkt noch als offizieller Berater des Prinzen engagiert. Wenige Jahre später sollte er als großer Reformator und Begründer der modernen Türkei wieder kommen.

Eine Woche bleiben sie auf Einladung von Kaiser Wilhelm II. im Adlon. Sie besuchen die Kaiserin im Schloss Bellevue und schauen sich eine Operette an. Anfang Januar steigt die Delegation am Berliner Hauptbahnhof wieder in den Balkan-Express und es geht mit einer Direktverbindung zurück nach Konstantinopel – in vier Tagen über Wien, Budapest und Sofia.

„Jetzt kommt der Krimi“, sagt Gültekin Emre auf dem Weg zur Hardenbergstraße 21. Vor einem Glasbau bleibt er stehen: „Hier lebte der türkische Großwesir Talatpasar, und hier wurde er erschossen.“ Ein armenischer Student habe sich auf offener Straße von hinten an den ehemaligen Kriegsführer herangeschlichen und abgedrückt. Der Großwesir lag tot auf dem Asphalt vor seiner Haustür, nahe dem Schillertheater. 1918 war er mit Parteifreunden ins politische Exil geflüchtet, weil er mit dem Völkermord an den Armeniern in Verbindung gebracht worden war. Das Haus, das damals hier stand, steht nicht mehr. Nur der kalte Boden, auf dem er lag, ist noch da.

Gültekin Emres Wege zwischen den historischen Orten werden kürzer, „in den 30er und 40er Jahren des 20. Jahrhunderts bewegte sich die türkische Studentenszene vor allem zwischen Kantstraße und Ku’damm“. Emre geht jetzt mit schwingendem Mantel durch die Kantstraße, den Blick nach oben gerichtet, er schaut nach der Nummer Acht, dem Mietshaus, in dem sich 1919 eine Gruppe türkisch-sozialistischer Studenten trifft, um eine politische Zeitung herauszugeben. Emre zieht ein rotes Heft hervor, er hat es in Istanbul in einem Antiquariat gefunden: die Mai-Ausgabe mit dem Thema Befreiung. Der Text ist zur Hälfte auf Deutsch, zur Hälfte in türkischer Sprache gedruckt, auf dem Umschlag prangt ein Bild von Karl Marx.

Atatürk hatte gerade den Befreiungskampf begonnen, erklärt Emre, er sei zwar kein Sozialist gewesen, aber einige Ideen passten, so glaubten die Studenten, mit den ihren zusammen. Die Studenten hätten sich noch im selben Jahr auf den Weg in den Befreiungskampf gemacht. Mit dem Zug seien sie nach Hamburg gefahren und von dort aus weiter mit der Fähre „Mittelmeer“ nach Istanbul. Nur: kurze Zeit nach ihrer Ankunft wurden sie aufgrund ihrer politischen Gesinnung verhaftet. Atatürk hielt wohl doch nicht so viel von einer Zusammenarbeit.

Einige Jahre später zieht der Maschinenbaustudent Kemal Karaati in das Haus Kantstraße 25. Seine Tochter hat Emre die Fotos aus der Studentenzeit ihres Vaters gegeben. Darauf ist der junge Karaati zu sehen, wie er im Mai 1942 mit einem Freund über den Ku'damm flaniert: mit Nadelstreifenanzug, Melone und gepunkteter Krawatte. Ein anderes zeigt ihn am Schreibtisch sitzend, den Kopf über die Bücher gebeugt, auf dem Tisch eine kleine türkische Flagge.

Ein paar Häuser weiter, in der Nr. 16, ist damals ein türkisches Restaurant. Da sitzen die Herren Studenten auf dunklen Holzstühlen an gedeckten Tischen. „Hier war ihr Treffpunkt“, sagt Emre. Auch der Student Karaati trinkt damals hier seinen Mokka aus kleinen goldumrandeten Gläsern. An der Wand hängt ein Bild von Kemal Atatürk. Heute verkauft hier ein Reisebüro Billigflüge nach Antalya.

Gültekin Emre klappt das rote Sozialistenbuch zu, und steckt die sepiafarbenen Fotos wieder in einen Umschlag. „Es gibt noch so viele Orte in Berlin, an denen Türken eine Geschichte hatten“, sagt er, „dort drüben, am Ku’damm war der türkische Studentenverein, einige Häuser weiter die türkische Handelskammer, das erste Hotel in Besitz eines Türken – ich könnte ewig so weitermachen“.

Am Abend, am Ende seiner Reise durch die türkische Vergangenheit Berlins, kommt Gültekin Emre zurück zu seinem Steglitzer Wohnhaus und nimmt die Treppen zurück in seine deutsche Gegenwart. Er hängt seinen Mantel in die Garderobe, zieht sich seine Hausschuhe an die Füße, begrüßt seine Frau und setzt sich zurück an den Holztisch. Er will jetzt den neuesten Hinweis untersuchen: Ein Foto, das er von einem Freund aus Istanbul bekommen hat. Darauf eine Gruppe türkischer Studenten im Tennisdress beim Picknick in einem Vorort von Berlin, ein anderes zeigt sie beim Zuckerfest im Konsulat, irgendwann in den 40er Jahren. „Und erstmals sind auch Frauen dabei“, ruft Emre, „Und keine von ihnen trägt ein Kopftuch!“ Er nickt bedeutungsvoll. Seine Frau lächelt milde. Während sich ihr Mann mit jedem weiteren Foto, das er auf den Tisch legt, wieder in die Vergangenheit verabschiedet.

Die Schlossstraße, in der Hassan und Aly wohnten (1), der Friedhof am Columbiadamm (2), die Herthastraße (3), in der das Türkenheim stand. Im Adlon (4) wohnten der Sultan und Kemal Atatürk, in der Hardenbergstraße (5) wurde der türkische Großwesir erschossen. Die Gegend rund um die Kantstraße (6) war bei türkischen Studenten beliebt.

Dialika Krahe

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