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Stadtleben: Vom Butter-Krawall zum Szenekiez

Ein Audioguide erklärt Friedrichshain und erzählt seine Geschichten

Wer denkt schon ans Aufmucken, wenn er sonnabends gemütlich über den bunten Markt am Boxhagener Platz schlendert? Doch während des Ersten Weltkriegs ging es hier in Friedrichshain richtig rund: Im Jahr 1915 protestierten Arbeiterfrauen gegen Wucherpreise für Brot, Gemüse und Butter auf dem Wochenmarkt – und am Ende sogar gegen den Krieg und die Obrigkeit. Die Behörden drehten die Preisschraube zurück und die Unruhen vom „Boxi“ gingen als „Butter-Krawalle“ in die Berliner Geschichte ein.

Das ist nur eine von vielen Friedrichshainer Geschichten, die auf die gesamte Stadt ausstrahlten. Nachzuerleben sind sie auf dem neuen Audioguide und Hörbuch „Unerhörte Stadtgeschichten. Die Geheimnisse des Szeneviertels“. Das Kiez-Porträt ist 70 Minuten lang und lässt ich beim Kiezspaziergang per Discman oder zu Hause anhören. Es verschafft Besuchern schnelle Orientierung und lässt Alteingesessene mit anderen Augen durch vertraute Straßen laufen. „Wir möchten Friedrichshain durch Schicksale und Geschichten hinter den Fassaden näher bringen“, erklärt Stephan Hutter, 46, einer der Hörbuchmacher. Vor acht Jahren als Architekt und Journalist aus München an die Spree gekommen, bewahrt er sich beide Sichtweisen.

Doch der Audioguide schwelgt nicht nur im Vergangenen. Für Touristen und zahlungskräftige Zugezogene im Trendbezirk listet die CD die Hotspots zum Ausgehen und Einkaufen auf. Viele davon liegen rund um die Wühlischstraße. Co-Autorin und -Produzentin Doreen Welke betrachtet die Gegend aus der Wohnzimmer-Perspektive. Seit 22 Jahren ist sie in derselben Wohnung in der Simplonstraße zu Hause. Anfangs prägten hier graue Fassaden, Kohlegeruch und schlichte Eckkneipen die Nachbarschaft – jetzt wird das Meer der Boutiquen und Cocktailbars auf Berlins abwechslungsreichster Modemeile fast täglich unüberschaubarer.

„Wir wollten schon lange ein Hörbuch über Berlin machen“, erzählt Welke in ihrer Stammkneipe, der „Tagung“. Und dann schauten sie und Hutter eines Tages vom Balkon und schon war die Idee geboren, eine Liebeserklärung an den bunten Szenebezirk Friedrichshain zu vertonen. Nach zehnmonatiger Recherche und Produktion veröffentlichten sie ihr Hörbuch-Debüt im Eigenverlag. „Jeden Tag haben wir eineinhalb Stunden lang einen Theater-Sprechkurs gepaukt“, erinnert sich Hutter. „Das war harte Arbeit.“

Im atmosphärisch dichten, mit historischen O-Tönen aufgepeppten Hörbuch spiegeln sich auch persönliche Erfahrungen der Macher wieder. Für die 42-jährige Doreen Welke gehören die Blues-Messen und Friedensgebete in der Samariter-Kirche während der 80er Jahre genauso zum Erfahrungsschatz wie der Moment, als sie sich 1986 von ein paar Kumpels ihre Wohnung im besetzten Haus „auftreten ließ“, wie die Reiseverkehrskauffrau und Fremdenführerin erzählt. Und erste Reaktionen auf die CD gibt es auch: „Meine Freundin aus Tiergarten sagte kürzlich zu mir: Ich wusste gar nicht, dass man hier so schön shoppen kann.“

Eines, sagen die Autoren, ist allen Geschichten gemeinsam: Sie handeln von Träumen und Wünschen. Da war der Traum von einem gefüllten Magen und einer geheizten Wohnung nach dem Zweiten Weltkrieg, der viele Friedrichshainer zu Kriminellen machte. Oder die Sehnsucht nach einem Leben jenseits von Mauer und Todesstreifen. Oder die Vision einer Alternativkultur in der Mainzer Straße, die 1990 unter Pflastersteinen und Wasserwerfern zu Ende ging.

Während die beiden erzählen, schwappen die ersten Pub-Crawler von der Simon-Dach-Straße herüber. Darunter ein paar Frauen mit Kondom-Mützchen, die die Kneipen-Gäste um ein paar Euro für den Junggesellinnen-Abschied anschnorren. Stephan Hutter und Doreen Welke amüsieren sich. Das nächste Projekt haben sie schon im Hinterkopf: Ein digitaler „Walk of Fame“ soll an außergewöhnliche Friedrichshainer Schicksale erinnern. Vielleicht werden dann auch endlich die protestfreudigen Hausfrauen vom Boxhagener Platz und ihr Butter-Krawall gewürdigt.Nils Michaelis

Den Audioguide „Unerhörte Stadtgeschichten“ gibt es für 9,80 Euro in Friedrichshainer Buchläden, Kneipen und Hostels. Auf www.hoerspur.com lässt er sich für 8 Euro downloaden.

Nils Michaelis

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