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STELLEN anzeige: Seite 178

An jeder Ecke sieht man Menschen,die in Büchern lesen. Andreas Merkelfragt sie, was darin gerade passiert

Mein Personalausweis und mein Reisepass waren schon mehrere Wochen abgelaufen. Seit April hatte ich mir deswegen kleine Zettel geschrieben und in meinen Kalender gelegt. „Zu erledigen: Personalausweis, Reisepass!“ Da ich fast immer etwas Besseres zu tun hatte, schob ich die Angelegenheit vor mir her. Ich schrieb gerade an einem Roman, und es fühlte sich gut an, mit abgelaufener oder ungültiger Identität herumzulaufen (so stellte ich mir das vor). Aber dann wurde es langsam dringend, weil im Herbst ein paar wichtige Reisen anstehen.

An einem regnerischen Donnerstagvormittag ist es im Bürgeramt Mitte hinter dem Kino International bereits eine halbe Stunde vor Öffnung so voll, dass ich nicht mal mehr eine Wartenummer kriege. Die nette Dame am Empfang sagt mir aber, ich könne mir neue Pässe an jedem beliebigen Berliner Amt ausstellen lassen, anderswo sei es leerer. Also beschließe ich spontan und um die ganze Angelegenheit nicht noch ein weiteres Mal aufzuschieben, durch den Regen die Karl-Marx-Allee hochzufahren, um es im Bürgeramt Friedrichshain zu versuchen. Immer schön unter den Bäumen durch, ein Lied von Bright Eyes summend, das am Morgen im Radio lief: „So I go, umbrella under my arm, into the green of the radar ...“

Auf dem Amt an der Frankfurter Allee ist es beinah gemütlich leer. Ich ziehe die 80 und gehe ins Wartezimmer. Dort sitzt meine zweite Leserin. Als ich ihr mein Projekt erkläre, muss sie lächeln. Ich sage, dass ich gerade erst mit dem Projekt angefangen habe (es ist gut, von einem „Projekt“ zu reden, was ja kein klar schreibender Mensch mehr so formulieren würde. Denn es ist gut, sich im Gespräch möglichst einfach, vielleicht sogar ein bisschen blöd auszudrücken – und dann aber auch bereit zu sein, dem anderen das gleiche Recht einzuräumen) und dass sie erst die Nummer zwei ist. Die Nummer zwei will wissen, wer denn der erste gewesen sei. Ein Thriller lesender Blumenverkäufer am Treptower Krematorium! Findet sie super.

Sie liest gerade Erich Maria Remarques „Im Westen nichts Neues“. Den Autor kenne sie noch aus der Schule, das sei ja ein Klassiker. Das Buch hat sie sich in einer Buchhandlung in der Luisenstraße in Mitte gekauft, die Mängelware verkauft. Ihr Remarque ist ein – wie das im Internet bei Amazon-Marketplace heißen würde – gut erhaltenes, gebrauchtes Taschenbuch, das 3,50 Euro gekostet hat (vorne ist noch der Preis drauf). Meine Nummer zwei ist gerade auf Seite 178 unten und hat den Satz gelesen: „Lewandowski hat das alles stundenlang mit uns besprochen, denn beim Kommiss gibt es darin keine Geheimnisse.“

Das Buch gefällt ihr, erzählt sie mir, aber es sei auch nicht so leicht zu lesen. Sie hat die Wartenummer 78 gezogen und ist vor mir dran.

Andreas Merkel

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