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Berlin: Streik mit halber Kraft

Tausend Praxen sollten gleich zu Beginn der Ärzteproteste geschlossen bleiben – doch nur 50 Prozent machten mit

Vor der Praxistür ein Disput zwischen Patienten. Es geht nicht darum, wer als Erster zur Anmeldung darf und am kürzesten warten muss – es geht darum, ob Ärzte das Recht haben, ihre Dienste für Kranke an ganz normalen Sprechtagen zu verweigern. Am Mittwoch hat die Frauenarztpraxis von Barbara Geuer und Anke Ebert am Mariendorfer Damm 73 zwar noch eingeschränkt für Patienten mit Terminen geöffnet, doch in den nächsten fünf Wochen wollen sie jeweils an einem Werktag ihre Praxis schließen.

„Ich könnte das ja verstehen, wenn ich meine Kassenbeiträge nicht bezahlt hätte“, schimpft eine Rentnerin und will den Zettel mit dem Streikhinweis am liebsten herunterziehen. „Darunter leiden wir Patienten.“ Aber eine junge Frau tritt ihr entgegen. Sie redet von FünfMinuten- und Zwei-Klassen-Medizin und sagt, sie arbeite als Erzieherin. „Bei Kita-Streiks verhalten sich die Eltern solidarisch. Die kapieren , dass wir auch in ihrem Interesse die Arbeit verweigern.“

Kaum begonnen, scheint der Ausstand der Ärzte viele Patienten zu beschäftigen – obwohl sie gestern in Tempelhof, Friedrichshain, Marzahn, Pankow und Spandau keine massiven Nachteile hatten. Dort sollten zwar am ersten Streiktag alle rund 1000 Praxen geschlossen bleiben, doch tatsächlich machten selbst nach Angaben der Verbände nur einige hundert mit.

Denn die Mediziner sind gleichfalls höchst unterschiedlicher Meinung. So besuchte der Tagesspiegel gestern vierzig Praxen in Tempelhof und Friedrichshain – und stand etwa bei jeder zweiten vor geschlossenen Türen. „Wir protestieren gegen Honorarbudgets und das Vorhaben der Bundesregierung, die fachärztlichen Klinikambulanzen auf Kosten freier Praxen auszubauen“, erläuterten Aushänge.

Längerfristig einbestellte Patienten wurden noch behandelt – wer spontan kam, musste gehen. Doch es kamen nur wenige, weil die meisten Patienten sich lieber einen späteren Termin holten, statt einen fremden Arzt im Nachbarbezirk aufzusuchen. Und wer sofort Hilfe brauchte, musste nicht lange nach einer geöffneten Ersatzpraxis suchen: Es hatten genügend um die Ecke geöffnet. So auch im Ärztehaus am oberen Tempelhofer Damm. Dort wußten am Mittwoch noch nicht einmal die Praxisinhaber unter einem Dach genau, wie ihre Kollegen zum Streik stehen. „Wir haben da kaum drüber geredet.“

In Friedrichshain, im Ärztehaus am Petersburger Platz, wäre das gar nicht nötig gewesen. Dort waren alle Praxen im Dienst. Die Kranken sollen unter dem Unmut der Mediziner nicht leiden, hieß es unisono. Für den Internisten Rudolf Seidel ist sein gestriger Dienst gar Protest gegen den Protest. „Auf meine Verbesserungsvorschläge hören die Verbände ohnehin nicht, also arbeite ich.“

Die Hausarztpraxis Warkotsch/von Broen ist ganz in der Nähe. „Zu uns kommen sehr viele alte und chronisch kranke Menschen“, sagt eine Mitarbeiterin. „Die schickt man nicht fort.“ Gleichwohl, die Gründe für den Protest kann auch sie verstehen. Chronisch Kranke sind meist teure Patienten. Die Budgetgrenze? Sie macht eine wegwerfende Handbewegung. „Ein Unding.“

Auch Hautarzt Hellmut Fichtner in Friedrichshain kämpft mit den Limits – 20 Euro pro Patient und Quartal. Und trotzdem protestiert er nicht. „Dieser Streik“, sagt er, „läuft gegen die Wand.“ cs/frh

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