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Großer Ungelesener. Auch zu seinen Lebzeiten war Oskar Loerke vermutlich der größeren Allgemeinheit nicht bekannt. In der Literaturszene spielte er damals aber eine große Rolle, etwa als Cheflektor beim Verlag S. Fischer

© Mutter Erde / Wikipedia Commons

Streit um ein Berliner Ehrengrab: Ab wann ist ein toter Dichter vergessen?

Berlin will das Ehrengrab des Lyrikers Oskar Loerke aufgeben. Aus der Kulturszene kommt heftige Kritik.

Man lebt so lange wie der letzte, der sich an einen erinnern kann – dieser gleichermaßen melancholische wie hoffnungsfrohe Satz spiegelt sowohl die Endlichkeit des menschlichen Lebens als auch die Unendlichkeit unserer Gedankenwelt. 

Aus aktuellem Anlass wird dieser Satz hier zitiert, weil er zum unterschiedlichen Erinnerungsvermögen des Senats von Berlin auf der einen und dem der literaturinteressierten Berlinerinnen und Berliner auf der anderen Seite passt. Worum geht es?

Auf dem Friedhof Frohnau in der Hainbuchenstraße 64 – 75 befindet sich das Grab des Schriftstellers Oskar Loerke. Loerke wurde 1884 in Jungen bei Schwetz (heute polnisch: Wiag) im damaligen Westpreußen geboren. Er starb am 24. Februar 1941 in Frohnau. Sein Grab ist erhalten, weil es sich um ein so genannten Ehrengrab handelt. 

Durch Ehrengräber, die nicht nach der normalen Ruhezeit eingeebnet, sondern auf Kosten des Landes Berlin weiter gepflegt werden, würdigt der Staat, also in einer Demokratie wir alle, jene Frauen und Männer, die auf ihren Wissens- oder Tätigkeitsgebieten Leistungen vollbracht haben, die weit über ihre Lebenszeit hinaus eine Wirkung haben.

Der Senat von Berlin hat sich kürzlich mit dem Thema Ehrengräber befasst und unter anderem beschlossen, zehn Persönlichkeiten mit besonderer Bedeutung für Berlin durch eine Ehrengrabstätte zu ehren. Dazu gehören die NS-Widerstandskämpferin Maria Gräfin von Maltzan, gestorben 1997; der Sänger und Komponist Rio Reiser, gestorben 1996; die Schauspielerin Edith Schollwer, gestorben 2002 und der frühere Regierende Bürgermeister Dietrich Stobbe, gestorben 2011.

Beschlossen wurde auch, die Anerkennung als Ehrengrabstätte für sieben Persönlichkeiten nicht zu verlängern, „da ein fortlebendes Andenken in der allgemeinen Öffentlichkeit nicht mehr erkennbar ist“. Einer der sieben ist Oskar Loerke, Lyriker, Essayist und Literaturkritiker.

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Darauf aufmerksam gemacht hat Tagesspiegel-Leser Manfred Schäfer, Betreuer der Bibliothek und des Archivs des August-Bebel-Institutes im Kurt Schumacher-Haus in der Müllerstraße. Er schreibt: „Loerke gehört leider zu den zahlreichen großen Ungelesenen und Fast-Vergessenen … das versteht sich leider fast von selbst, wenn man sich vergegenwärtigt, dass Loerke hauptsächlich als Lyriker gewirkt hat“.

„In der allgemeinen Öffentlichkeit“, um die Formulierung aus der Mitteilung des Senates zu zitieren, hat Oskar Loerke vermutlich auch zu Lebzeiten keine besondere Rolle gespielt. Seine Erlebnisse hat er in langen Reisetagebüchern dokumentiert. Die Erzählung „Vineta“ aus dem Jahre 1907 wurde 2017 noch einmal neu herausgebracht, was auf ein gewisses anhaltendes Interesse schließen lässt.

Loerke (vierter von rechts, sitzend) 1929 in der Preußischen Akademie der Künste.
Loerke (vierter von rechts, sitzend) 1929 in der Preußischen Akademie der Künste.

© Erich Salomon/Wikipedia Commons

Loerke war sein Leben lang als Lektor im Verlag S. Fischer tätig, ein formales Bekenntnis zum Nationalsozialismus wollte er nur zum Schutz des jüdischen Verlegers unterschrieben haben. Dass er bis zu seinem Tod 1941 Cheflektor blieb, spricht gewiss nicht für NS-Nähe.

Der Deutschlandfunk würdigte ihn anlässlich seines 75. Todestages am 24. Februar 2016 unter anderem so: „Wer Anfang der 1930er Jahre eine Einladung Oskar Loerkes in seine Villa im nördlichen Berliner Stadtteil Frohnau erhielt, durfte etwas auf sich halten, denn der Gastgeber galt damals als ’Großsiegelbewahrer des deutschen Geistes’, wie ihn der Verleger Samuel Fischer genannt hatte. So war das Haus immer voll…“

[Dieser Text stammt erschien zu erst in unserem Bezirksnewsletter für Reinickendorf. Den können Sie hier kostenlos bestellen: leute.tagesspiegel.de]

Um einen finanziellen Erlös seiner Arbeit haben ihn, heißt es weiter im DLF, „dann die Nationalsozialisten gebracht. Dass seine Naturlyrik nichts mit ihrer Blut-und-Boden-Ideologie zu tun hatte, hatten sie sofort begriffen und sorgten dafür, dass Loerke nach ihrem Machtantritt 1933 als Sekretär der Sektion Dichtkunst der Preußischen Akademie der Künste abgelöst und sein Werk durch Verschweigen ins Vergessen geschickt wurde. 

Verbittert zog er sich in die innere Emigration zurück, wenn er auch 1936 einen letzten Gedichtband, „Der Wald der Welt“, noch veröffentlichen konnte. In dieser Verbitterung starb er, kurz vor seinem 57. Geburtstag“.

Nach einer ersten Veröffentlichung im Reinickendorf-Newsletter des Tagesspiegels über die geplante Auflösung des Ehrengrabes gab es zahlreiche Proteste aus der deutschen Kulturszene. Erich Bürck, Antiquar in Berlin, regte etwa Lesungen am Grab Loerkes an. Am Institut für deutsche Sprache und Literatur an der Pädagogischen Hochschule Karlsruhe wurde ein offener Brief an die zuständigen Berliner Stellen formuliert. Ein Lehrer, Rudolf Wiese, bietet an, ein Jahr lang das Grab kostenlos zu pflegen.

Die endgültige Entscheidung in der Sache trifft nicht der Senat, sondern der Rat der Bürgermeister. In dem hat der Reinickendorfer Bezirksbürgermeister Frank Balzer einen der zwölf Sitze. Balzer tritt bei der kommenden Wahl im September nicht mehr als Bürgermeister an, sondern kandidiert für die CDU im Wahlkreis Frohnau, Hermsdorf, Freie Scholle für das Abgeordnetenhaus. Das Gedenken des Bezirks dokumentiert ein kleines, unauffälliges Straßenschild: Der Loerkesteig ist eine Fußgängerbrücke in Hermsdorf über die S-Bahnlinie.

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