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Berlin: Tempelhofer Unfreiheit

Archäologen graben auf dem Flugfeld nach Resten von Arbeitslagern aus dem Zweiten Weltkrieg Sklaven aus ganz Europa schufteten hier für die Rüstung. Jetzt werden Führungen organisiert.

Zwischen dem Friedhofsminarett am Columbiadamm und dem Radarturm am monumentalen Flughafengebäude, neben dem Basketballplatz, hinter der Friedhofsmauer, also einen starken Steinwurf weit von den Spontan-Lauben der Flugfeld-Eroberer sind 1500 Quadratmeter Wiese mit einem Metallzaun umsperrt. Darin ein Bauwagen, Erdhaufen, Schubkarren, Spaten, Schaufeln, Spachtel, ein dreibeiniges Vermessungsgerät. Zwei FU-Archäologen kratzen am Erdreich in rechteckig ausgestochenen Gruben, unterstützt von schwitzenden Studenten. Ein Stromkabel ragt aus dem Lehm, zwei abgeschlagene Abwasserrohre sind zu sehen – und rohe, unverschalt gegossene Betonfundamente jener Holzbaracken, die knapp drei Kriegsjahre hier gestanden haben. Vor dem Zaun wartet ein Bereitschaftsmann vom Kampfmittelräumdienst. Das Zwangsarbeiter-Lager war durch Bomben zerstört worden, Trümmer hatte man nach 1945 untergepflügt. Als die Erkundung hier vor zwei Wochen startete, mussten Radlader erst die „Pflugschicht“ abtragen. Unter der Grasnarbe samt Oberboden beginnt, mit Spachtel und Pinsel, die Nahaufnahme.

Der Blick in die Tiefe erweitert das Panorama „Tempelhofer Freiheit“ um irritierende Aspekte. Dass – von 1933 bis zu seinem Abriss für den Flughafen-Neubau 1938 – am Columbiadamm in einem Militärknast Berlins einziges dauerhaftes KZ bestanden hatte, ist zwar bekannt, ebenso die Existenz eines Zwangsarbeiterlagers auf Flughafenterrain. Von über 1000 solcher Lager in Berlin befanden sich 26 in Tempelhof, Adressen sind heute noch durch standesamtliche Geburtseintragungen (Vermerk: „Lager“) nachzuvollziehen. Dass aber davon mindestens fünf die Rüstungs- und Reparaturfabrik des Fliegerhorsts bedienten, zu dem der Flughafen kriegsbedingt umgewidmet worden war, verschattet den Rückblick: Das kolossale Denkmal der architektonischen Moderne war auf Produktivität durch Sklavenarbeit umfassender ausgerichtet, als die spätere Luftbrücken-Glorie das erahnen ließ. Berlins kommende Mode-, Sport- und Fetenmeile wird so auch zum Geschichtspark der Widersprüche.

Von zwei großen Lagern östlich und südlich des Flughafengebäudes (eines an der Lilienthalstraße, das andere genannt „Richthofen-Gemeinschaftslager“) weiß man freilich wenig; von drei weiteren auf dem Flughafengelände fast nichts. Es gibt Bauanträge, Baupläne, aber kein Wissen über Belegungszahlen. Grabungsingenieur Edward Collins hockt zwischen Barackenfundamenten des intern „Lufthansa-Lager“ genannten Komplexes. Dass die freigelegten, unterm Expansionsdruck eines Rüstungsprojekts hochgezogenen Unterkünfte, anders als im Bauplan vermerkt, über Strom und Wasser verfügten, ist seine Erkenntnis des Tages.

Grabungsleiter Jan Trenner hockt abseits in einer kleineren Grube: Hier liegen Gräber, die 1937 an diesen Platz wohl vom nahen Garnisonfriedhof, zugunsten des 1936 gestarteten Flughafenneubaus, umgebettet worden waren. Über Knochenfunde lässt sich das Alter der in Vorkriegsjahrzehnten Bestatteten bestimmen. Doch der größere Kontext, zu dem Trenner und Collins ihre Detailfunde beisteuern möchten, ist die differenzierte Geschichte des alten (ab 1923) und neuen Airports. Anhand per Vermessungsgerät gewonnener Daten und im Abgleich mit entzerrten Luftfotos sind Pläne der Gesamtanlage zu rekonstruieren.

Zur öffentlichen Darstellung des Puzzles gehört auch eine Infotafel, die – als erste Station eines historischen Parcours – bereits auf dem Flugfeld steht. Fotos zeigen Luftbilder, Baracken, eine Arbeiterin an der Maschine, eine Montagehalle voller Ju 87, kaputte Stukas mit Hakenkreuzflosse. Der Text erwähnt Marschall Görings nach Berlin verlegte Weser-Werke, Lufthansa-Betriebe, Sklaven-Rekrutierung aus Kriegsgefangenen, Juden, europaweit angeworbenen oder verschleppten Personen – und Forschungslücken.

Hundert Meter weiter sortiert in einer Mülltonnenwaschanlage die Fundbearbeiterin Maria Theresia Staatsmann dutzende aussagefähige Objekte nach Fundstellen: Keramik-Scherben, Glas, Nägel, rostige Amaturen, gestempelte Ziegel, Sargornamente. Alle werden gewaschen, getrocknet, bezeichnet, dokumentiert. „Museen arbeiten mit der Aura der Dinge", sagt Projektleiter Reinhard Bernbeck. Aus einem Nagel lässt sich die Dicke eines Bretts ableiten; unbekanntes Kachel-Design vermittelt Anmutungen einer anderen Zeit. Dokumente halten das Besondere fest, oral history überliefert emotionale Spitzen – aber „Alltag besteht aus Routine. Archäologie kommt näher an den Alltag heran,“ sagt der Professor.

„Den Goldschatz“ hat der Vorderasien-Experte nie gefunden, doch ein Alltags-Puzzle sei ebenso viel wert: „Alltag ist unspektakulär. Zwangsarbeiter hatten Alltag – das ist auch: traurig." Bernbeck geht es mit diesem Zwölfwochen-Projekt, das später für den alten Flughafen und das große Lager am Columbiadamm fortzusetzen wäre, um Empathie, Verantwortung und die Abwägung aller Aspekte für ein Tempelhof-Gesamtbild: „Weil die Entstehung unserer Lebenswelt heute etwas mit den Opfern damals zu tun hat." Thomas Lackmann

Führung auf dem Grabungsgelände am Columbiadamm: jeweils freitags 13 Uhr

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