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Berlin: Till Wilsdorf (Geb. 1940)

Wer nicht promoviert ist, darf bei ihm keine Kisten schleppen

Drei Dinge legen ihm die Freunde ins Grab: ein Buch, weil er so gerne las, seinen schwarzen Borsalino, weil er den Hut höchst selten abnahm, und einen Plüschpinguin, weil er in ihm ein Symbol sah für das Angezogensein.

Würde war Till Wilsdorf wichtig. Mit übertriebenem Stolz hingegen kam er überhaupt nicht klar. Er fand, er hatte Glück gehabt. 1991 notiert er auf ein Zettelchen: „Im Osten bin ich gut durchgekommen. Im Westen haben mich nur Freund/innen beachtet.“

Wilsdorf gehörte schon früh zu den Nonkonformisten. Zu den Jungen Pionieren und in die FDJ will er nicht, dann schon lieber in die Junge Gemeinde. Studieren darf er bloß Theologie. Immerhin: eine gute, bürgerliche Ausbildung.

Am 13. August 1961, so erzählte er später, sei er mit einem Freund aus der Kneipe zum Potsdamer Platz gelaufen, um den Brigaden beim Bau der Mauer zuzuschauen und schließlich, ohne beachtet zu werden, in den Westen zu spazieren. Im Westen wohnte Gisela, seine Freundin. „Ansonsten waren 20 Jahre Lebenserfahrung für den Arsch“, so das abschließende Urteil über sein DDR-Leben. Jetzt galt es zu lernen, wie man im Supermarkt einkauft. Und mit den Frauen im Westen musste man auch ganz anders sprechen. Vielleicht heiratete er deshalb Gisela. Die kannte er ja schon. Und zum Glück konnte auch die geliebte Mutter bald in den Westen ziehen.

An der FU studiert Wilsdorf neben Theologie nun Chemie. Er trifft Menschen, die er besser versteht als die meisten Kommilitonen, weil sie wie er aus dem Osten kommen: Bernd Rabehl und Rudi Dutschke enge Freunde. Als Rudi 1966 Gretchen heiratet, sind Gisela und Till Trauzeugen. Im selben Jahr kommt ihr Sohn Boris zur Welt. Die Ehe aber kriselt. Die beiden trennen sich – und gründen mit neuen Partnern, einem dritten Paar und zwei weiteren Kindern eine WG in Wilmersdorf, unmittelbar am Puls der Zeit. Doch nur ein Jahr, dann brennt die Wohnung aus.

Trotz seiner Nähe zu Dutschke & Co. hält sich Wilsdorf stets im Hintergrund. Wenn die anderen demonstrieren, sitzt er im SDS-Büro. Als Andreas Baader im Hinterzimmer der „Dicken Wirtin“ die Anwesenden besoffen zu den Waffen ruft, zur Tilgung der großen deutschen Schuld, ist ihm das „zu groß, zu inkommensurabel“.

1973 dann Stuttgart. Für fünf Jahre hat Wilsdorf eine Stelle bei der linken Evangelischen Studentengemeinde. Er ist zuständig für die Schulung von Studentenpfarrern, die die Studierenden für den Klassenkampf fit machen sollen, und organisiert Debatten getreu dem Motto: „Das bisschen Theologie, das wir brauchen, machen wir uns selbst.“ Es folgen eine Buchhändlerlehre und 1984 ein zweijähriges Stipendium in Prag, wo er beobachten muss, wie unter den Kommilitonen die Skepsis gegenüber dem Sozialismus wächst. Sie interessieren sich mehr für seinen roten Alfa Romeo, den ihm seine Mutter gekauft hat.

Er reist gern und viel und weit. Fehlende Sprachkenntnisse sind kein Hindernis. Als ihm auf einem Markt in Brasilien die Kamera entrissen wird, überzeugt er den Dieb, sie ihm zurückzugeben.

Mit den Frauen ist es nicht so einfach. Mit Ulrike kriselt es, da lernt er Gerdi kennen, die er beeindruckt, als er einem Nebenbuhler ein Tablett mit Rotweingläsern auf den weißen Teppich schmeißt. Drei Jahre dauert das Hin und Her. Dann heiratet er Ulrike, trennt sich auf der Hochzeitsreise von ihr und kommt zurück zu Gerdi.

In den Neunzigern hangelt er sich von einer Stelle zur nächsten, wird geringfügig beschäftigter Geschäftsführer einer kleinen theologischen Buchhandlung.

Rente mit 62, Wilsdorf träumt von einer Mehr-Generationen-Genossenschaft auf dem Land, zieht aber nach Wedding zu einem alten Bekannten in dessen Pfarrerswohnung, wo auch Studenten aus China leben. Es ist sein 36. Umzug. Wer nicht promoviert ist, darf bei Till keine Kisten schleppen, so heißt es.

Wieder und wieder Projekte. Mal soll ein Film über ihn gedreht werden, mal plant er eine Autobiografie. Dann Zusammenbrüche und die Diagnose: Sklerose mit zunehmender Demenz. „Ich will nicht mehr, ich geh zur Bundeswehr“, sagt er.

75 will er werden. 75 wird er. Drei Wochen später ist er tot, eingeschlafen in seinem kleinen, wie er es nannte: „Vier-Zimmer-Zimmer“, umgeben von den geliebten Büchern, die er nicht mehr verstand.

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