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Rotes Grablicht inmitten von Pflanzen.

© Sebastian Gabsch

Toten-Andacht in Berlin: „Ein Signal der Menschlichkeit“

In Berlin-Reinickendorf wurde erstmals eine Andacht für einsam Verstorbene gefeiert. Der Bezirk ließ sich von datenschutzrechtlichen Bedenken nicht hindern.

226 Kerzen brannten am Sonntagabend auf den Stufen zum Altar der Evangelischen Apostel-Paulus-Kirche in Hermsdorf, dazwischen lagen rote Rosenblüten. Jede der Kerzen erinnerte an einen Menschen, der im abgelaufenen Jahr von der Ordnungsbehörde des Bezirks Reinickendorf bestattet worden war, weil der Tote entweder keine Angehörigen hatte, oder diese Angehörigen zu Lebzeiten den Kontakt abgebrochen hatten.

Reinickendorf ist der erste Bezirk, der sich von datenschutzrechtlichen Bedenken nicht daran hindern ließ, für diese Verstorbenen eine würdige Gedenkfeier auszurichten. Eine Gruppe von Bürgern, zu denen als treibenden Kräfte Gesundheitsstadtrat Uwe Brockhausen (SPD), Patrick Larscheid, der Leiter des Gesundheitsamtes und Andreas Hertel, der Pfarrer der evangelischen Apostel-Paulus-Gemeinde gehörten, sowie Silvane Ehrhardt vom Beerdigungsinstitut, hatten zu der Feier in die Kirche eingeladen. Etwa

50 Menschen waren der Aufforderung gefolgt. Sie hörten die Namen aller 226 Verstorbenen, in wechselnder Reihenfolge von Patrick Larscheid und Andreas Hertel verlesen, sowie zum Anlass passende Gedichte und einfühlsame Musik, gespielt von Monika Schubert, Marc Ringel, Sidonie Klein und Sabrina Kaeber auf Querflöten und Posaune.

Vielfältige Schicksale

Uwe Brockhausen versuchte in einleitenden Worten die Schicksale jener Menschen zu beschreiben, deren letzten irdischen Weg die Ordnungsbehörden organisieren mussten. Man könne nur vermuten, dass die meisten von ihnen nicht auf der Sonnenseite des Lebens gestanden haben, sagte er. Es sei ein Signal der Menschlichkeit, eine solche Trauerfeier mit der Verlesung der Namen abzuhalten, denn der Mensch sei erst tot, wenn niemand mehr an ihn dächte, mahnte er unter Bezug auf ein Brecht-Zitat.

Wie vielfältig die Schicksale der Menschen waren, deren Urnen auf dem Alten Domfriedhof in Mitte beigesetzt wurden, zeigte Patrick Larscheid, ohne Namen zu nennen, an vier Beispielen auf. Da war der im achten Lebensjahrzehnt verstorbene Wittenauer, der zwei Jahre unentdeckt tot in seiner Wohnung lag, obwohl der Sohn nur wenige hundert Meter entfernt wohnte. Da war der einsame Flüchtling, der den gefährlichen Weg über das Mittelmeer geschafft hatte, und dann im Tegeler Fließ ertrank.

Da war die alleine lebende Frau, die ermordet und deren Leiche weit weg von Berlin verscharrt worden war. Und dann der Mann, um dessen Beisetzung sich nach dem Tod keine der sieben Töchter kümmerte – weil er die Mutter der ersten der Töchter brutal gequält und die der sechs anderen erschossen hatte. Da wäre dann, erklärte Patrick Larscheid die Rechtslage, es eine „unbillige Härte“ gewesen, wenn man die Familie zur Begleichung der Beerdigungskosten herangezogen hätte.

Können zwischen 50 Trauergästen, von denen sich viele vermutlich vorher nie gesehen hatten, überhaupt Gemeinsamkeiten entstehen? Der Wille, ein Zeichen zu setzen, einte sie zumindest alle. Sie sollten sich ihren Nachbarn mit dem Vornamen vorstellen, forderte Larscheid die Gekommenen auf. Und dass ein kleines Kind, fast noch ein Säugling, fröhlich zwischen den Reihen herumkroch, öffnete den Blick nach vorne, auch in dieser Stunde.

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Gerd Appenzeller

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