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Berlin: Trauer um den einen, Angst um die anderen

Nach Domenicks Tod blieb die Schule geschlossen, die er in Gatow besucht hat

Von Sandra Dassler

NACH DEM MENINGITIS-FALL IN SPANDAU

Seit dem Anruf kurz nach sieben hat Irmgard Schadach einfach nur funktioniert. Schnell und umsichtig, als hätte sie einen solchen Fall schon mehrfach erleben müssen: Sie hat im Krankenhaus angerufen, das Schulamt, die Kollegen und die Nachbarschulen benachrichtigt. Sie hat sogar noch geschafft, mehr als 300 Informationszettel kopieren zu lassen, die sie den Eltern mit auf den Weg geben konnte, als diese mit ihren Kindern kurz vor acht Uhr die Schule betreten wollten. Sie hat sich Rat geholt, wie mit den Vertretern der Presse zu verfahren sei, hat Journalisten und Fotografen durchs Haus geführt und ihnen den Klassenraum von Domenick gezeigt.

Jetzt, am Mittag, ist erst einmal alles getan und Irmgard Schadachs Betriebsamkeit weicht unaufhaltsam der Trauer. Als die Fotografen ihre Objektive auf den Platz des Jungen in der leeren Klasse richteten, hat die Schulleiterin an die Schlagzeilen gedacht, die morgen in den bunten Blättern stehen werden. Sie hat Domenick, den sie wie alle Schüler persönlich kannte, vor sich gesehen. Und seine Mutter, die sie am Morgen angerufen hatte, mit dieser unfassbaren Nachricht: Mein Sohn ist heute Nacht gestorben.

Nachdem ihr der Oberarzt im Waldkrankenhaus bestätigt hatte, dass es sich wahrscheinlich um eine ansteckende Meningitis handelte, war ihr sofort der Fasching vor wenigen Tagen eingefallen. Da könnten Domenick und seine zwei Jahre jüngere Schwester mit vielen Kindern in Kontakt geraten sein – Irmgard Schadach entschloss sich, die Schule zu schließen und alle Kinder und Kollegen zur prophylaktischen Untersuchung zu schicken. „Ja, wir haben ihn gestern nach Hause gehen lassen, weil er über Kopf- und Gliederschmerzen klagte“, erzählt sie: „Aber wer denkt denn an so etwas? Zur Zeit schnauben und schniefen doch alle Schüler.“

Fast 30 Jahre ist Irmgard Schadach Lehrerin. Im Herbst 2000 hat sie die Leitung der 29. Grundschule in Spandau übernommen. Die war für die „Landstadt Gatow“ gedacht. Ursprünglich sollten hier 1200 Häuser entstehen – vorrangig für Bonner Beamte. Es wurden nur ein paar hundert Häuser, aber das tat dem Enthusiasmus in der neuen Schule keinen Abbruch. Liebevoll ist sie eingerichtet worden: freundlich, hell, und dann der Name: „Mary Poppins“ – welches Kind möchte nicht in eine solche Schule gehen? Jetzt steht Irmgard Schadach ganz verloren unter dem bunten Mobile mit vielen kleinen Mary Poppins‘. „Ich weiß noch nicht, wie wir mit diesem furchtbaren Ereignis fertigwerden. Der Montag, wenn die Kinder wiederkommen, wird schwer. Zumal wir kurz nach der Eröffnung der Schule schon einen Trauerfall hatten: eine junge Lehrerin starb ganz unerwartet an einer schweren Krankheit.“

Ein fröhlicher Junge sei Domenick gewesen, sagt die Schulleiterin, eigentlich ein „ganz normaler Elfjähriger“. Wie sie später erfuhr, waren er und seine Schwester wegen einer Familienfeier gar nicht beim Fasching. „Das Schulamt fand trotzdem, dass es richtig war, die Schule zu schließen. Und alle untersuchen zu lassen.“ Auch die Kinder der 3. Klasse einer benachbarten Grundschule wurden dem Arzt vorgestellt. Sie hatten in dieser Woche gemeinsam mit Domenicks Schwester Schwimmunterricht.

Im wenige Meter entfernten Hans-Carossa-Gymnasium rufen pausenlos besorgte Eltern an. „Hier spricht sich alles sehr schnell herum“, sagt Schulleiterin Siegrid Bergmann. „Ich habe den Gymnasiasten angeboten, dass jeder, der Kontakt zu Schülern in der Mary-Poppins-Schule hat, zum Arzt gehen kann. Etwa die Hälfte der Jugendlichen hat das Angebot angenommen. So sind die beiden Schulen am Flugplatz Gatow an diesem Freitagmittag sehr leer. Auf dem Spielplatz der Mary-Poppins-Grundschule wartet ein einsamer gelber Ball auf die Rückkehr der Schulkinder.

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