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Traumafachberater Schlingmann: ''Sie fühlen sich nicht mehr als Mensch unter Menschen''

Thomas Schlingmann von der Beratungsstelle „Tauwetter“ geht davon aus, dass auch heute noch Schüler missbraucht werden. Aber Scham und Schuldgefühle lassen die Opfer eines Missbrauchs oft lange leiden – und daher auch lange schweigen.

Der Missbrauch im Canisius-Kolleg geschah in den 80er Jahren. Ist so etwas in Schulen und ähnlichen Institutionen auch heute noch denkbar?



Ja. Ich gehe davon aus, dass es nach wie vor stattfindet. Wir wissen nur nicht wo, weil sich viele Opfer erst später äußern können: Wenn mir so etwas passiert, dann bin ich in meinem Inneren zutiefst erschüttert, sehr mit mir selber beschäftigt und bemüht, zu verdrängen. Oft dauert es dann zehn bis 15 Jahre, bis solche Erlebnisse wieder hochkommen. Es ist kein Zufall, dass es erst einige wenige gewesen sind, die sich im Fall Canisius geäußert haben. Dass dann der Brief des Rektors Pater Mertes kam, für dessen Verhalten ich Hochachtung und Respekt habe – und dann erst meldeten sich weitere Opfer.

Man traut sich erst, wenn man nicht mehr alleine ist?

Ja, so verrückt es ist. Auch wenn die Jungs mitbekommen, dass anderen dasselbe passiert, haben sie alle das Gefühl, sie seien damit alleine. Das wird erst in dem Moment aufgehoben, in dem einige anfangen, es öffentlich zu machen.

Ist das ein Grund, warum die Opfer nicht viel früher auf völliger Aufklärung der Taten bestanden?

Ähnlich kenne ich das aus unserer Beratungsstelle. Es besteht eine große Scham und die Opfer möchten nicht, dass etwas an die Öffentlichkeit gelangt. Zwar wagen sie einen kleinen Vorstoß und erleichtern sich selbst, indem sie sich einmal alles von der Seele reden …

… zum Beispiel in dem internen Brief, den die Opfer in den 80ern an Schulleitung und Ordinariat schrieben ...

Ja, aber sie bleiben nicht konsequent dabei, haben Angst davor, eine offizielle Aussage machen oder Anzeige erstatten zu müssen.

Was für Auswirkungen hat der Übergriff einer Autoritätsperson auf die Psyche eines Kindes?

Es ist ein massiver Angriff darauf, Vertrauen in andere Menschen zu haben. Das zeigt sich auch oft hier in der Beratungsarbeit: Jahrzehnte nach Übergriffen berichten Männer, dass sie selbst ihrer Partnerin nicht trauen können. Das wirkt in alle Bereiche des Lebens, auch die Arbeit. Manche können schlecht mit Kollegen zusammen im Team arbeiten.

Besteht zwischen Schülern und Lehrern an einem Ordenskolleg ein besonderes Machtverhältnis?

Ja, das gibt es. Es kommt allein schon durch den geistlich-religiösen Kontext zustande. Auch für Jungen, die nicht religiös sind, sind Priester, Pfarrer, Geistliche Autoritäten. Man kann sich einfach nicht vorstellen, dass so eine Person so etwas tut. Die Opfer denken sich: Wenn ich dagegen etwas sage, wie stehe ich denn da? Das Machtgefälle ist gerade in religiösen Einrichtungen noch mal wesentlich größer als in konfessionslosen.

Spielt auch Mitgefühl für die Täter eine Rolle? Oft sind es ja beliebte Lehrer.


Mitgefühl würde ich nicht sagen. Aber normalerweise ist es so, dass die Täter den Jungs etwas geben. Etwas, das sie von anderen Lehrern oder im Elternhaus nicht kriegen. Das kann Zuneigung sein oder Aufmerksamkeit, es können aber auch materielle Dinge sein. Ich weiß etwa von einem Fall, in dem der Missbrauch Bedingung war, um in einer Fußballmannschaft mitspielen zu dürfen: Um aufgestellt zu werden, musste man mit dem Trainer unter die Dusche. Solche Sachen sind das Gegengewicht zum Missbrauch. Sie machen die Ambivalenz in der Opfer-Täter-Beziehung aus.

Zuneigung wiegt die Qual auf?

Im Prinzip kann man sagen, dass das so funktioniert. Erfahrungsgemäß ist es aber so, dass bei vielen, wo gewalttätige Missbrauchsformen stattgefunden haben, eher Scham- und Schuldgefühle die Opfer schweigen lassen.

Mit was für Folgen müssen Missbrauchsopfer umgehen?


Das ist individuell. Allerdings gibt es eine ganz große Häufung an ähnlichen Symptomen. Missbrauchsopfer haben Angst, Nähe zuzulassen, Vertrauen aufzubauen. Auch das Selbstwertgefühl leidet. Beim sexuellen Missbrauch fühlt sich das Opfer wie ein Gegenstand, eigene Bedürfnisse und Wünsche zählen nicht mehr. Sie fühlen sich nicht mehr als Mensch unter anderen Menschen, sondern als ein Ding, das andere benutzen können.

Wieso schicken manche dennoch die eigenen Kinder auf dieselbe Schule?


Ich bin mir ziemlich sicher, dass keinesfalls alle Missbrauchsopfer das gemacht haben. Wenn ich so etwas als Jugendlicher erlebe und versuche, es zu vergessen, dann gehört zu meiner neu konstruierten Lebensgeschichte, meiner Vergangenheit, der Besuch einer erfolgreichen Eliteschule. Die Schule hat ja einen sehr guten Ruf, anders wäre es, wenn sie einen schlechten hätte. Aufgrund dessen und ihrer konstruierten Lebenslüge schicken dann einige auch das eigene Kind dorthin. Sie sind nicht in der Lage, ihre Kinder zu schützen, weil sie nicht zu dem, was ihnen selber passiert ist, stehen können.

Wie kann man solche Vorfälle künftig vermeiden?

In den Institutionen muss sich etwas ändern. Sie brauchen eine interne Auseinandersetzung, wo konkrete Grenzen zu ziehen sind. Dazu gehören Dinge wie: Haben Lehrer auf Klassenfahrten mit den Jungs in einem Zimmer zu schlafen? Nein. Hat der Sporttrainer etwas unter der Dusche zu suchen? Nein, hat er nicht. Wenn es solche Vorfälle in einer Institution gibt, sollte dafür gesorgt werden, dass die Betreffenden keinen Kontakt mehr zu Jugendlichen haben dürfen. Sie sollten nicht einfach in eine andere Gemeinde verschoben werden, wie es ja häufig passiert. Wenn klar ist, dass solche Leute auch nicht eingestellt werden und dass die Institution so ein Verhalten überhaupt nicht toleriert, dann haben wir viel geschafft. Zudem sollte es mehr Ansprechpartner geben, an die man sich wenden kann – auch anonym.

Die Fragen stellte Katja Reimann

Thomas Schlingmann, 52,  arbeitet als Traumafachberater bei der Beratungsstelle „Tauwetter“, die  als Jungen sexuell missbrauchte Männer betreut und berät.

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