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Berlin: Treten Sie ein!

Vier Wähler standen pünktlich um acht Uhr vor der Kindertagesstätte an der Behrenstraße in Mitte und wollten hinein. Ebenso wie die Wahlhelfer selbst.

Vier Wähler standen pünktlich um acht Uhr vor der Kindertagesstätte an der Behrenstraße in Mitte und wollten hinein. Ebenso wie die Wahlhelfer selbst. Immerhin sollte hier das Wahllokal sein. Die Stimmung verdüsterte sich, und Ratlosigkeit machte sich breit. Aber die Tür blieb zu, kein Hausmeister zeigte sich. Die Zeit verging, schließlich wurde, mit behördlicher Genehmigung, die Tür eingetreten, und die Wahl konnte mit einstündiger Verspätung beginnen. Der Hausmeister hatte sich nicht verspätet, sondern vergessen, dass Sonntag Wahltag war.

Zum Thema Ergebnisse I: Stimmenanteile und Sitzverteilung im Abgeordnetenhaus Ergebnisse II: Direktmandate im Abgeordnetenhaus Ergebnisse III: Ergebnisse nach Regionen (Abgeordnetenhaus und BVV) WahlStreet.de: Die Bilanz Die Verspätung blieb ein Einzelfall unter den 2771 Wahllokalen, setzte aber die Tradition vergesslicher Hausmeister fort, denn bei jeder Berliner Wahl wurde bislang irgendwo ein Hausmeister zum Aufschließen gesucht. Völlig neu war, was die Wähler des Moabiter Wahlkreises 404 / 408 erleben durften. Beim Weg zu den Stimmzetteln mussten sie eine Glastür öffnen, über der das Wort "Auslieferung" stand. Der Wahlvorstand residierte zwischen Felgenreinigern und Cockpitsprays an einem langen Tisch, über dem das Schild "Fahrzeugbewertung" hing. Und im großen Salon nebenan freute sich Verkaufsberater Torsten Schäfer, dass viele Wähler ihr demokratisches Recht mit der Neugier auf neue Autos verbanden. Er durfte zwar nicht beraten oder gar verkaufen, aber das Interesse der Wähler war ganz im Sinne des Autohauses Eduard Winter an der Beusselstraße. Es gehörte zu den ungewöhnlichsten Wahllokalen der Stadt. Ursprünglich sollte in der nahen Reformationskirche gewählt werden, aber wegen der gleichzeitigen Kirchenwahl fehlte der Platz, den das Autohaus zur Genüge und auch behindertengerecht bieten konnte.

Dietmar Buchholz gehörte ebenfalls zu jenen vielen Tausend Berlinern, die beim Gang zum Wahllokal überrascht wurden. Die Galerie "Art & Henle" an der Gartenstraße in Mitte bot ihm Gelegenheit, nicht nur Wahlzettel und Wahlkabine zu besichtigen, sondern gleichzeitig die Ausstellung "Reise nach Jerusalem" von Ivo Lucas. Buchholz wäre normalerweise nie auf die Idee gekommen, eine Galerie zu besuchen, noch dazu mit "freizügigen Bildern" und verrenkten nackten Schaufensterpuppen. Katja Sittig und Miron Hakenbeck fanden die künstlerische Umgebung angenehmer als die in einer Kindertagesstätte oder Schule "mit schrecklichen Erinnerungen". Das Wahlamt hatte den Galeristen Stefan Henle gebeten, seine Räume zur Verfügung zu stellen, um vom drögen Einerlei der Schulen und Tagesstätten abzukommen, Neues zu bieten. Die Auflage hieß nur: "Keine Pornografie".

Die Mehrheit der Wahllokale - weit über 90 Prozent - waren schon längst nicht mehr in Kneipen, sondern in öffentlichen Gebäuden eingerichtet; überwiegend in Schulen, Kinder- und Altentagesstätten. An der Kärntener Straße in Schöneberg mussten Wähler Räume betreten, die sie normalerweise nicht unbedingt freiwillig besuchen wollten. Der Weg zur Wahlurne führte an Schildern wie "Kopfentlausung" und "Läusebefall" vorbei, der Wahlraum selbst versprühte mit seinen weißgelben Kacheln - was auch sonst - den Charme der Zentralen Desinfektionsanstalt Berlin.

Wesentlich gefühlvoller war die Umgebung im "Hochzeitszimmer" des Ratskellers Zehlendorf. Beim Wirt Hans-Joachim Zangolis konnten die Wähler nicht nur über Parteien, sondern auch über "Wahlgerichte" abstimmen, wobei eine halbe Ente mit Rotkohl und Klößen für 15 Mark die Wahl gewann. Am Neuköllner Richardplatz waren wahlbedingt auch Männer im Frauentreff "Schmiede" willkommen, und zu den außergewöhnlichen Orten zählte auch der Andachtsraum der Kirchengemeinde an der Detmolder Straße in Wilmersdorf. In der Schule am Rüdesheimer Platz waren gleich sechs Wahllokale eingerichtet.

Gewählt wurde in Tennisclubs (Rot-Weiß), in Kleingärten (Pankow) oder in Schützenvereinen (Lichtenrade). In Rauchfangswerder in Köpenick wurden die Wahlzettel mangels Masse später in einem anderen Wahllokal ausgezählt. Das kleinste (230 Wahlberechtigte) lag an der Spandauer Oberhavel, das größte mit 1817 in Treptow-Köpenick. Rund 23 000 Wahlhelfer waren für 50 oder 30 Mark (öffentlicher Dienst) im Einsatz, der älteste zählte 86 Jahre.

Christian van Lessen

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