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Berlin: Und dann stand der Panzer auf dem Gleis

1988 gab es sechs Tote bei einem Unglück nahe Berlin. Was die Stasi damals berichtete, ist beim heutigen Tag der Archive nachzulesen

Von Sandra Dassler

Der 19-jährige Soldat der Roten Armee sitzt aufgeregt in einem Panzer vom Typ T 64 A. Warum seine erste Fahrt gleich im Dunkeln sein soll, weiß er nicht. Sein Lehrer, selbst erst 20, befiehlt ihm, den ersten Gang einzulegen und eine Rechtskurve zu fahren. Doch der junge Soldat würgt den zweiten Gang ein und fährt geradeaus. Später wird er aussagen, dass er keine Befehle gehört habe. „Nach rechts“, ruft der Lehrer, der weiß, dass sich der T 64 fast schon außerhalb des Übungsplatzes befindet. Der 19-Jährige hört ihn nicht und bemerkt im Dunkeln auch nicht, dass er direkt auf die viel befahrene Eisenbahnstrecke Leipzig-Berlin zuhält. Verzweifelt drückt sein Kamerad den Notschalter, eigentlich müsste nun der Motor ausgehen. Doch als das endlich geschieht, steht der Panzer gerade mitten auf dem Eisenbahngleis. Die Soldaten hören ein näherkommendes Brausen. „Raus“, schreit der Fahrlehrer. Sie springen aus dem Panzer, in den Sekunden später der D-Zug Leipzig–Berlin-Stralsund rast.

So könnte es gewesen sein. So steht es jedenfalls in einem internen Bericht der DDR-Staatssicherheit, der heute erstmals der Öffentlichkeit zugänglich gemacht wird. Zum bundesweiten Tag der Archive zeigt die Außenstelle Potsdam der Birthler-Behörde auch Fotos von dem schweren Zugunglück am 19. Januar 1988 in Forst Zinna bei Jüterbog.

Mit etwa 110 Stundenkilometern war der D 716 – dem Stasibericht zufolge – gegen 17.50 Uhr auf den 36 Tonnen schweren Panzer gerast, hatte ihn 130 Meter vor sich her geschoben. Die E-Lok wurde zusammengedrückt, die beiden Berliner Lokführer waren die ersten Todesopfer. In den 13 Wagen hinter ihnen saßen rund 400 Reisende, von denen vier starben und 33 schwer verletzt wurden.

„Freiwillige Feuerwehr und andere Bürger waren schnell an der Unfallstelle und halfen“, erzählt der Jüterboger Ortschronist Henrik Schulze. „Ihnen schlossen sich auch viele russischen Soldaten vom nahegelegenen Truppenübungsplatz an. Doch als die unverletzten Reisenden mitbekamen, dass der Panzer die Ursache für das Unglück war, wollten sich einige von ihnen an den Rotarmisten rächen.“

Das stand natürlich nicht in den Meldungen der DDR-Zeitungen, die ansonsten ungewöhnlich ausführlich über den Vorfall berichteten. Die zahlreichen Unfälle mit Beteiligung von Angehörigen der Roten Armee waren in der DDR bislang fast immer verschwiegen worden. Kein Wunder, dass die Volksseele kochte. In einem ebenfalls heute zu sehenden Dokument berichtet ein Stasispitzel: „Der M. äußerte, dass die Sowjetsoldaten – er nannte sie Russen – sehr verantwortungslos gehandelt hätten... und das nicht zum ersten Mal.“ In Forst Zinna seien auch vor 1988 immer mal wieder Panzer über die Eisenbahngleise gebrettert, bestätigt Henrik Schulze. Als Ursache für nachfolgende Unfälle sei aber stets nur „Gleisverwerfung“ angegeben worden. Dass das Unglück im Januar 1988 dann plötzlich umfangreich durch die DDR-Presse aufgegriffen wurde, lag an der damals bereits herrschenden Verstimmung zwischen Honecker und Gorbatschow, meint er: „Die SED-Chefs waren sauer wegen der Perestroika und dachten sich: Jetzt zeigen wir denen in Moskau mal, dass wir hier auch Glasnost praktizieren können.“

Angeblich durften DDR-Ermittler sogar mit den Fahrern des Panzers sprechen, bevor diese vor ein sowjetisches Militärgericht gestellt wurden. Ob die beiden jungen Männer – wie damals viele vermuteten – tatsächlich erschossen wurden, ist bis heute nicht bekannt.

Ausstellung heute von 14 bis 18 Uhr in der Großbeerenstraße 301 in Potsdam

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