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Berlin: Ursula Stephanowitz (Geb. 1926)

Sozialismus hin, Kapitalismus her, was zählte, war die Zeit des Aufbruchs.

War das wirklich Berlin? Sie taumelte durch die Straßen. Aus den Ruinen stieg Rauch. Die Großstadt, der Lichterglanz, von dem sie als Kind so verzaubert war – alles dahin. Damals hatte sie mit dem Vater die Verwandten in Berlin besucht; jetzt stand sie allein in Holzpantinen und einem Kleid am Körper im zerstörten Nirgendwo. Sie kam aus einem russischen Internierungslager.

Die Schreckensbilder des Krieges ließen sie nicht los: Ein junger Soldat, tot auf dem Boden, ein Bündel Liebesbriefe noch in den Händen. Auf dem Fußmarsch ins Lager ein Pferd, das übel nach ihr trat. Und dann dieser betrunkene Soldat, der erst seine Kalaschnikow abfeuerte, dass ihr die Kugeln um die Ohren pfiffen, und der sich dann brutal an ihr verging.

Schon ihre Kindheit hatte jäh mit einem Sturz aus dem Nest der Geborgenheit geendet. Sie war zehn, als die Gestapo ins Haus stürmte und den Vater verhaftete. Der engagierte Dorfschullehrer und überzeugte Sozialdemokrat hatte aus seiner Abneigung gegen die Nazis kein Hehl gemacht. Ein halbes Jahr lang kämpfte die Familie für seine Freilassung, litt finanzielle Not. Als er freikam, ließ man ihn nicht mehr unterrichten.

Wie ihr Vater träumte auch sie von einer gerechten Gesellschaft, in der jeder nach seinem Talent gefördert wird und niemand Not leiden muss. Wie er wurde auch sie Lehrerin. Er riet ihr, der neu gegründeten Sozialistenpartei im Osten beizutreten. Das tat sie, denn die neuen Ideen klangen nicht schlecht. In der Lehrerausbildung freundete sie sich mit Anneliese an, einer sportlichen Frau gleichen Alters. Zwei Biografien, zwei Charaktere, die unterschiedlicher nicht sein konnten. Anneliese sprühte nur so vor Unternehmungslust, sie hatte den Krieg schadlos überstanden und zog bald frisch verheiratet in den Westteil der Stadt. Ursula blieb bei ihrem Vater und dem Bruder im Osten, nähte sich Röcke aus alten Kissenbezügen und interessierte sich eher für historische und politische Themen als für exotische Reiseziele. Die Freundschaft überdauerte alles, sogar die Mauer. Wenn Anneliese zu Besuch kam, brachte sie Andenken von ihren Reisen mit. Sozialismus hin, Kapitalismus her, was zählte, war die gemeinsam erlebte Zeit des Aufbruchs, die Erinnerungen an die durchtanzten Nächte und an die glücklichen Momente nach dem Krieg.

Anfang der sechziger Jahre heiratete Ursula den Kunsthistoriker Traugott Stephanowitz, eine Tochter wurde geboren. Als Student hatte ihr Mann Flugblätter gegen die Nazis verteilt, nun attackierte er den einen oder anderen Apparatschik mit markigen Sprüchen. Eine „rotlackierte Narzisse“ nannte er eine Genossin, die ihm besonders akkurat auf Kante gebügelt vorkam. Zwar standen Traugott und Ursula Stephanowitz hinter den Idealen der DDR, aber dass die Realität damit nicht allzu viel zu tun hatte, war ihnen schmerzlich bewusst.

In der Schule bekam sie es mit dem Einheitsgeklingel von Quoten und planmäßiger Studienplatzvergabe zu tun. Sie bemühte sich, die Schüler nach ihren Talenten zu fördern und musste erleben, wie sie in Berufe geschickt wurden, die mit diesen Talenten kaum etwas zu tun hatten. Immer wieder wurde sie aufgefordert, Jungen für die Offizierslaufbahn zu werben. Als sich schließlich die eigene Tochter vergeblich um ein Kunststudium bewarb, schwand ihr Vertrauen ins System. Zwei Wochen vor der Öffnung der Mauer gab sie ihr Parteibuch ab.

Die DDR starb, mit ihr aber nicht der Traum von der gerechten Gesellschaft. Ursula Stephanowitz brauchte ihre Zeit, um sich im vereinten Deutschland zurechtzufinden. Dann blühte sie noch einmal auf. Sie engagierte sich im Heimatverein Pankow, hielt Vorträge und zog mit ihrem Enkel von einem Museum zum anderen. Vom ersten Tag an begeisterte sie ihn für die großen Geschichtsthemen. Das Kapitel DDR ließ sie aus. Es erschien ihr nicht bedeutsam genug. Die Holzpantinen aber, mit denen sie in Berlin angekommen war, die hat sie niemals weggegeben. Stephan Reisner

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