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Verschuldung: Wenn die Rechnung nicht mehr aufgeht

Immer mehr junge Berliner sind hoffnungslos überschuldet – oft aus Unkenntnis, aber auch, weil es ihnen leicht gemacht wird. Besonders anfällig: Menschen unter 35.

Von Sandra Dassler

Die junge Frau mit dem kindlichen Gesicht schiebt einen Berg Zahlungsaufforderungen wegen nicht beglichener Handyrechnungen über den Tisch. „Die drohen mir jetzt mit Pfändung“, sagt sie, und blickt ängstlich: „Deshalb muss ich was machen. Dass mir Vattenfall seit einem halben Jahr den Strom abgestellt hat, ist nicht so schlimm. Aber was, wenn sie mir das Kinderbett pfänden?“

„Moment mal“, sagt Friederike Flacke: „Sie haben ein kleines Kind?“ Die junge Frau nickt: „Ja, meine Tochter ist drei Monate alt.“ Friederike Flacke, die im Wechsel mit ihren Kollegen vom Arbeitskreis Neue Armut Neukölln jeden Dienstag eine spezielle Schuldnerberatung für junge Menschen bis 24 Jahre anbietet, lächelt zurück. Und wird dann ernst: „Aber wie versorgen Sie ihr Kind ohne Strom?“

Die junge Frau sagt, sie hole warmes Wasser von ihren Nachbarn. Wenn es dunkel sei, benutze sie eine Taschenlampe, oft sei das Kind auch bei ihrer Mutter. Und die Heizung funktioniere ja noch. Sie ist 21, bekommt 351 Euro Arbeitslosengeld II plus 154 Euro Kindergeld. Friederike Flacke wird jetzt resolut: „Man darf Ihnen nicht den Strom abstellen, wenn sie ein Baby haben. Sie müssen sofort beantragen, dass der Strom wieder läuft. Das ist das Wichtigste, danach kümmern wir uns um die Handyverträge. Auch das Kinderbett kann man Ihnen nicht pfänden.“

Das junge Pärchen, das als nächstes kommt, hat ebenfalls ein Kind. Die beiden mit russischem Akzent sprechenden Neuköllner sind Friederike Flacke schon bekannt. „Sie waren ja lange nicht da“, sagt sie. Die 22-jährige Frau lächelt verlegen und schiebt statt einer Erklärung ein Schriftstück über den Tisch. Friederike Flacke wirft einen Blick darauf. „Der Gerichtsvollzieher kommt in zwei Tagen. Wie viele Schulden haben Sie denn jetzt?“

Die 22-Jährige reicht ihr zwei Ordner. Im gelben klemmen ihre Schulden, im blauen die ihres Lebensgefährten. Zahnarztrechnungen, Handyverträge, Interneteinkäufe, Bußgeldbescheinigungen – mehrere tausend Euro dürften zusammenkommen, schätzt die Beraterin. Sie erklärt den beiden Hartz-IV-Empfängern, wie sie einen Haushaltsplan aufstellen können, um sich einen Überblick über Einnahmen und Ausgaben zu verschaffen. Erst dann will sie gemeinsam mit ihnen versuchen, mit einzelnen Gläubigern zu verhandeln.

Ihr nächster „Kunde“ ist erst 16 und mehrfach beim Schwarzfahren erwischt worden. „Auch das ist ein klassischer Einstieg in die Schuldenfalle“, sagt Friederike Flacke: „Schwarzfahren, mehrere Handyverträge, ungedeckte Einkäufe im Internet oder auf Raten.“ 220 junge Neuköllner haben 2008 in der Jugendschuldnerberatung ihres Kiezes Hilfe gesucht. 2007 waren es 172. Das ist nur die Spitze des Eisbergs, vermuten die Mitarbeiter, die jeden zehnten Neuköllner Jugendlichen für überschuldet halten. Als die Wirtschaftsauskunft Creditreform kürzlich einen „Schuldenatlas“ vorstellte, sagte ein Experte, dass Menschen unter 35 Jahren besonders anfällig für das Schuldenmachen sind.

Natürlich werde es den jungen Leuten auch leicht gemacht, sagt Friederike Flacke. Sie können ohne Einkommensnachweis Ratenzahlungen vereinbaren, sie werden zum Abschluss von Verträgen animiert, obwohl sie noch nicht volljährig sind und mit „Null-Zinsen“ oder „1000 kostenlosen SMS“ getäuscht. Wenn sie dann in die Schuldnerberatung kommen, ist es meistens schon zu spät.

Deshalb setzen Friederike Flacke und ihre Kollegen auch auf Prävention. Gehen in Schulen und Ausbildungseinrichtungen, stellen erschreckende Unkenntnisse fest. „Vielen Jugendlichen ist nicht einmal klar, dass man für eine Wohnung Miete bezahlen muss“, sagt Friederike Flacke.

Dabei ist gerade die erste eigene Wohnung für viele junge Leute eine echte Herausforderung, meint ihr Kollege Frank Wiedenhaupt, der als Schuldner- und Insolvenzberater ebenfalls beim Arbeitskreis Neue Armut in Neukölln tätig ist. Er beobachtet noch eine andere neue Tendenz. „Besonders bei jungen Menschen ist das Vertrauen zu anderen oft grenzenlos“ sagt Wiedenhaupt: „Immer öfter melden Mädchen oder Jungen, die gerade 18 geworden sind, für Verwandte, Bekannte oder vermeintliche Freunde ein Gewerbe an. Sie erhalten dafür vielleicht 100 Euro und wissen gar nicht, dass sie als Strohmann für alles haften.“

Die 21-Jährige, die an diesem Dienstag als letzte in die Beratung von Friederike Flacke kommt, ist ein typisches Beispiel dafür. „Er war doch so nett“, schluchzt sie. Und erzählt, wie sie sich in einen sechs Jahre älteren Mann verliebte; wie er ihr vorschlug, sein Baugewerbe auf ihren Namen anzumelden und auch einen Lkw zu leasen; wie immer mehr Mahnungen in ihrem Briefkasten landeten: von Krankenkassen, weil ihr Lebensgefährte die Beiträge der Angestellten nicht abführte, von der Leasingfirma, weil er die Raten nicht bezahlte. Als sie ihren Lebensgefährten wegen dieses Versicherungsbetrugs zur Rede stellte, verschwand er aus ihrer Wohnung und ihrem Leben. Zurück blieb die junge Frau mit dem inzwischen geborenen gemeinsamen Kind, Depressionen und mehr als 50 000 Euro Schulden.

Alle Beratungsstellen unter www.schuldnerberatung-berlin.de

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