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Berlin: Versuche mit Contergan als letzte Hoffnung

BERLIN .Therapieversuche des Berliner Neurochirurgen Siegfried Vogel mit dem in Deutschland nicht zugelassenen Contergan-Wirkstoff Thalidomid lösen einen heftigen Konflikt unter Fachkollegen über ethische Grenzen der Medizin aus.

BERLIN .Therapieversuche des Berliner Neurochirurgen Siegfried Vogel mit dem in Deutschland nicht zugelassenen Contergan-Wirkstoff Thalidomid lösen einen heftigen Konflikt unter Fachkollegen über ethische Grenzen der Medizin aus.Der frühere Charité-Chefarzt und jetzige Leiter der Neurochirurgie im katholischen Sankt-Gertrauden-Krankenhaus in Wilmersdorf hat nach eigenen Angaben bislang 13 dem "Tod geweihte" Hirntumor-Patienten mit Thalidomid behandelt.Das ehemalige Schlafmittel, das Ende der fünfziger Jahre zu schweren Mißbildungen bei weltweit rund 12 000 Babys führte, könne das Gefäßwachstum im Tumor abschneiden, hofft der 55jährige Vogel, der mit der Charité-Strahlenklinik zusammenarbeit.Für "Erfolgsmeldungen" sei es jedoch zu noch früh.

Der Neurochirugie-Chef im Steglitzer Uniklinikum Benjamin Franklin, Mario Brock, sowie weitere Fachärzte werfen Vogel grobe Verstöße gegen grundlegende ärztliche Standards vor.Laut Brock gebe es keine wissenschaftlichen Belege über die Wirksamkeit von Thalidomid bei Hirntumoren, entsprechende Forschungen seien noch im Anfangsstadium.Wer ohne Absicherung durch eine Ethik-Kommission mit Menschen experimentiere, handle verantwortungslos und riskiere Skandale.Ähnlich kritisch zu Vogels Vorgehen äußern sich die Neurochirurgie-Chefs am Campus Virchow der Charité, im Unfallkrankenhaus Marzahn und im Krankenhaus Neukölln.

Vogel sei als "waghalsiger Operateur" bekannt, der auch dann zum Messer greife, wenn mehrere Kollegen anderer Kliniken dies zuvor abgelehnt hätten.Mit "übersteigertem Ehrgeiz" bei Patienten unrealistische Heilerwartungen zu wecken, sei kein Merkmal eines guten Arztes, betont Brock.Man könne und dürfe nicht alles operieren und müsse Grenzen ärztlichen Tuns erkennen.

Vogel weist Vorwürfe vehement zurück, mit Menschen zu "experimentieren".Er habe deshalb keine Veranlassung gesehen, vorab eine Ethik-Kommission einzuschalten oder die Klinikleitung zu informieren, da es um einzelne "unheilbar Kranke" gegangen sei, denen er eine letzte Chance geben wolle.Der Chirurg beruft sich auf einen internationalen Neurochirurgie-Kongreß im Philadelphia/USA, bei dem im April der Einsatz des Contergan-Wirkstoffs auch bei Krebsleiden diskutiert worden sei.In den USA wurde Tahlidomid nach 38jährigem Verbot kürzlich für die Therapie von Lepra wieder zugelassen.Geforscht wird zudem über die Verwendung des Contergan-Wirkstoffes als "Krebsgefäß-Blocker".Laut Vogel seien in New York 28 Hirnturmor-Patienten mit Thalidomid behandelt worden: "Bei 16 Patienten ging das Tumorwachstum zurück oder kam zum Stillstand".Fachliteratur zu den New-Yorker Versuchen gebe es jedoch nicht, räumt Vogel ein.

Der Gertrauden-Chefarzt unterstellt seinen Kritikern, "den Stand der wissenschaftlichen Debatte" nicht zu kennen.Er sei seit Jahren Kampagnen ausgesetzt und habe 1995 aus politischen Gründen den Posten als Chefarzt in der Charité verloren.Dem früheren SED-Mitglied Vogel war "systemtragende Funktion" zu DDR-Zeiten vorgeworfen worden, was ihn für Leitungsposten disqualifiziere.1994 gingen Patienten für Vogel sogar auf die Straße: "Nur Professor Vogel stand noch zwischen dem Tod und mir", hieß es auf einem Schild, das ein Junge im Rollstuhl trug.Vogel-Patienten sprachen von schmutzigen Intrigen gegen "den besten Neurochirurgen Berlins".In Fachkreisen reagierte man darauf verärgert.Wer erfolgreich operierte Patienten für sich mobilisiere, handle äußerst fragwürdig.

Der Ärztliche Direktor des fusionierten Klinikums Charité/Virchow, Eckart Köttgen, bestätigte indes, daß es bei drei mit Thalidomid behandelten Hirntumor-Patienten eine Kooperation zwischen Vogel und der Charité-Strahlenklinik gebe.Weitere "individuelle Heilungsversuche" gebe es auch in anderen deutschen Städten.Man erwäge, eine klinische Studie über den Einsatz des Contergan-Wirkstoffs bei Patienten zu machen, denen mit herkömmlicher Therapie nicht mehr geholfen werden könne.Dabei werde die Ethik-Kommission der Klinik eingeschaltet, so Köttgen.

In Ethik-Kommissionen beraten Ärzten verschiedener Fächer, Juristen und zuweilen auch Theologen oder Pflegekräfte.Sie überprüfen die wissenschaftliche Qualität und ethische Vertretbarkeit von Arzneistudien oder neuen Operationsmethoden, wägen Nutzen und Riskiken ab.Zudem wachen sie über verständliche Aufklärung der Patienten.

Contergan - "Medikament des Schreckens"

Der Wirkstoff Thalidomid hat unter dem Handelsnamen Contergan in den Jahren 1957 bis 1961 einen der größten internationalen Pharma-Skandale ausgelöst.Schwangere, die Contergan als Schlaf- und Beruhigungsmittel schluckten, brachten Kinder ohne Hände, Arme oder Beine zur Welt.Thalidomid schnürte im Mutterleib die Blutzufuhr für die Gliedmaßen der Feten ab und verursachte schwerste Fehlbildungen.Weltweit waren es rund 12 000 sogenannte "Contergan-Kinder", 2600 allein in Deutschland.Das "Medikament des Schreckens" verschwand vom Markt.Seitdem ein israelischer Lepraarzt vor wenigen Jahren Thalidomid mit Erfolg bei einer gefährlichen Komplikation der Lepra verordnete, hat die pharmakologische Forschung über Wirkung und mögliche Einsatzgebiete auch bei Aids oder Krebsleiden erneut begonnen.Thalidomid gehört 300 Substanzen, die als Wachstumshemmer von Blutgefäßen im Tumor erforscht werden.Zu den 20 bereits am Menschen erprobten Stoffen gehört auch Thalidomid, berichtete das amerikanische Magazin "Time".Erfolge der Forschung stünden jedoch noch aus und könnten Jahre dauern.Allein für eine bestimmte Form von Lepra ist Thalidomid seit kurzem in den USA unter strengen Auflagen wieder zugelassen. bk

BERNHARD KOCH

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