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Kinder die Opfer von Mobbing werden, vertrauen sich oft erst nach langer Zeit jemandem an.

© Frank Leonhardt/dpa

Charité-Mobbing-Expertin: "Viele Kinder leiden unter körperlichen Symptomen"

Caroline Di Maria ist Jugendpsychiaterin an der Charité. Ein Interview über die Entstehung von seelischen Problemen, Anzeichen und Hilfe für Betroffene.

Noch immer ist der Tod des elfjährigen Mädchens aus Reinickendorf ungeklärt. Ob Mobbing der unmittelbare Auslöser für einen Freitod war, steht nicht fest. Die Eltern bitten um Ruhe zum Trauern, die Staatsanwaltschaft ermittelt. Sicher ist: Das Kind wurde in der Klasse gemobbt. Sicher ist auch, dass Hetze und Herabwürdigung vielen Schülern, Eltern und Lehrern im Schulalltag zu schaffen machen.

Frau Di Maria, warum kann Mobbing bei Kindern und Jugendlichen zu seelischen Krisen führen?

Kinder und Jugendliche befinden sich in sensiblen Entwicklungsphasen und verfügen noch nicht über ausreichend gefestigte Ressourcen und Lösungsstrategien, um mit solchen belastenden Erfahrungen, die von Ausgrenzungen und Demütigungen bis zu körperlichen Übergriffen gehen, umgehen zu können. Studien zeigen, dass dies zu psychischen Störungen führen kann, dabei ist allerdings immer zu berücksichtigen, wie verwundbar diese Kinder schon zuvor sind. Verschiedene Faktoren beeinflussen die Vulnerabilität, also die Verwundbarkeit: genetischen Faktoren, Bindung, frühere negative Erfahrungen und Traumatisierungen, psychosoziale Belastungsfaktoren.

Mobbing ist also nie monokausal für seelische Probleme.

Nein, meistens nicht. Aber auch stabile und nicht vorbelastete Kinder verlieren irgendwann ihre Stabilität, wenn sie über einen längeren Zeitraum Mobbingerfahrungen machen, denn sie werden immer unsicherer, ihr Selbstwertgefühl wird geringer, Selbstzweifel kommen auf und die Kompensationsfähigkeiten sind nicht mehr ausreichend.

Welche Belastungen sind das?

Viele leiden unter körperlichen Symptomen und werden erstmal von Kinderärzten in der Pädiatrie diagnostiziert, ohne dass eine körperliche Ursache gefunden werden kann. Das können dauerhafte Bauchschmerzen, Kopfschmerzen oder andere Schmerzen sein. Es können aber auch sogenannte dissoziative Symptome auftreten, die wie neurologische Symptome aussehen (z.B. Kribbelgefühle, Lähmungserscheinungen, Gehstörungen). Andere haben Depressionen oder Angststörungen, bis hin zu Suizidgedanken.

Jugendpsychiaterin Caroline di Maria.
Jugendpsychiaterin Caroline di Maria.

© Privat

Kann Mobbing Kinder und Jugendliche dazu bringen, sich selbst Gewalt anzutun?

Ja. Selbstverletzungen und Suizidgedanken sind im Zusammenhang mit Mobbing sehr verbreitet. Seltener ist zum Glück der Suizidversuch oder der vollendete Suizid.

Wie hat sich Mobbing im Vergleich zum Ärgern und Ausgrenzen früherer Zeiten verändert?

Ein wesentlicher Punkt ist, dass das Cybermobbing dazu gekommen ist. Damit wird das Mobbing zeitlich ausgedehnt auf den Freizeitbereich. Hinzu kommt, dass Kinder und Jugendliche alle miteinander vernetzt sind, so dass Gruppendynamiken auch im Netz weiter relevant sind und Abwertungen und Demütigungen weiter gestreut werden können. Das heißt, gemobbte Kinder können sich gar nicht mehr schützen, da es ja auch eher selten passiert, dass sich Kinder von den sozialen Medien abwenden – sie wollen ja dazu gehören. Trotzdem sehen wir immer wieder Kinder und Jugendliche die sich komplett zurückgezogen haben, völlig isoliert sind und keine Freunde mehr haben.

Wie helfen Sie den Betroffenen?

In meinem aktuellen Job lerne ich diese Kinder meistens in der Pädiatrie kennen, und wir empfehlen dann, je nachdem, ob es schon psychische Symptome gibt und wie ausgeprägt diese sind, entsprechende Maßnahmen. Das beginnt mit einfacher Beratung der Familie und gegebenenfalls Gesprächen mit den Schulen oder ambulanter Psychotherapie und geht bis zur stationären kinder- und jugendpsychiatrischen Behandlung, insbesondere wenn die Kinder und Jugendlichen schon lange nicht mehr in die Schule gehen. Dann ist es sinnvoll, Kinder oder Jugendliche aus ihrem Umfeld herauszunehmen, ihnen eine intensivere Behandlung zu ermöglichen, Perspektiven zu erarbeiten, den Schulbesuch zu begleiten, gegebenenfalls auch einen Schulwechsel in die Wege zu leiten.

Mit wie vielen Kindern und Jugendlichen haben sie im Lauf eines Jahres zu tun?

So um die fünfhundert oder auch ein bisschen mehr. Ich schätzte, dass mindestens die Hälfte in irgendeiner Form Erfahrungen mit Ausgrenzung, Abwertung, Beleidigungen oder körperlichen Übergriffen gemacht hat. Bei manchen steht Mobbing im Mittelpunkt der Probleme, andere haben körperliche oder seelische Erkrankungen und werden deshalb geärgert, ausgegrenzt und ausgelacht.

Wann müssen Eltern aufmerksam werden?

Eltern sollten aufmerksam werden, wenn sich ein Kind zurückzieht, weniger mit den Eltern spricht, die meiste Zeit in seinem Zimmer verbringt, sich auch nicht mehr mit Freunden trifft, die Freizeitangebote, die es sonst wahrgenommen hat, nicht mehr wahrnehmen möchte und – ganz wichtig! –dauerhaft signalisiert, nicht mehr in die Schule zu wollen. Das muss man auf jeden Fall ernst nehmen. Auch Selbstverletzungen sind Warnsignale, allerdings unspezifische und sowie bei Suizidgedanken reden Kinder nicht immer mit ihren Eltern darüber. Zum Teil wollen sie nicht, dass sich die Eltern Sorgen machen oder sie fühlen sich nicht verstanden.

Wieweit sind Lehrer und Schulleiter gefordert?

Sie sind insofern gefordert, dass Mobbing ein Thema der Schulen ist, weil es dort meistens seinen Anfang nimmt. Nach meiner Erfahrung aber – und damit möchte ich die Schulen auch etwas entlasten – ist das Personal der Schulen mit dem wahren Ausmaß dieser Thematik meistens überfordert. Und mit den regulären Mitteln und Zeitressourcen, die die Schulen zur Verfügung haben, können Leitung und Lehrer es in den meisten Schulen nicht gewährleisten, präventive Maßnahmen gegen Mobbing durch Experten von außen umzusetzen. Die Verantwortung kann deshalb nicht alleine den Schulen überlassen werden. Eine Klärung auf einer anderen Ebene ist dringen notwendig, um die Kompetenzen in den Schulen zu stärken. Valide Präventionsprogramme dafür gibt es.

Das Gespräch führte Werner van Bebber.

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