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Die Wetterfesten. Wählen trotz Dauerregen war gestern Bürgerpflicht. Der Spitzenkandidat der „Piraten“, Andreas Baum, ging zur Stimmabgabe ins Stadtmuseum im Nikolaiviertel in Mitte, und Schauspieler Jürgen Hilbrecht erschien als Alter Ego Hauptmann von Köpenick in der neuen Bibliothek in der Altstadt Köpenick. Der Wahlkampf tobte noch bis in die Nacht – selbst auf dem Berliner Pflaster. Die Piraten hinterließen ihr Feld fürs Kreuzchen unter anderem in der Schöneberger Goebenstraße. Die FDP übernahm schelmisch die Drei-Kreuzchen-Idee von CDU-Wahlplakaten am Winterfeldtplatz.

© dpa

Berlin: Von Frühaufstehern und Spätankömmlingen

Newcomer geben sich siegesgewiss, Wahlhelfer kontrollieren unerbittlich – denn der Wahlkampf tobt bis zur letzten Minute

Ist das nicht der...? Bekannte Gesichter entdeckten die Wähler am Sonntag nicht nur, wenn sie zufällig im Wahllokal auf einen der Berliner Spitzenkandidaten trafen. In der Erich-Kästner-Grundschule im Dahlemer Bachstelzenweg zum Beispiel drängelten sich die Fotografen, um ein gutes Foto von Bundespräsident Christian Wulff und seiner Frau Bettina zu bekommen. Und in Köpenick gab der Schauspieler und Sänger Jürgen Hilbrecht seine Stimme im Kostüm des Hauptmanns von Köpenick ab, den er seit Jahren auf der Bühne verkörpert.

In letzter Minute. Manche Parteien versuchten, bis zur letzten Minute die Wähler noch für sich zu gewinnen. Auf dem Weg zu den Wahllokalen fielen vor allem die auf Straßen und Gehwege gesprühten Parolen der FDP auf. Bei manchen Wahllokalen mussten die Parteien in ihre Schranken verwiesen werden. So in der Sophie-Scholl-Oberschule in Schöneberg, wo es morgens um acht kracht. Die Wahlhelfer reißen Wahlplakate herunter. Dem irritierten Zuschauer wird erklärt: In „Blauwallänge“, also etwa 30 Meter, darf rund um die Wahllokale an diesem Tag keine Wahlwerbung mehr hängen. Probleme machen die Linken: Ihr Plakat hängt zu hoch am Laternenpfahl. Die Wahlhelfer kommen nicht ran und müssen jetzt erst einmal nach einer Leiter suchen. In der Grundschule am Rüdesheimer Platz wird die Sache mit der 30-Meter-Grenze nicht ganz so ernst genommen. Direkt vorm Eingang lächelt SPD-Kandidat Reinhard Naumann seine potenziellen Wähler vom Plakat an.

Siegesgewiss. Der Spitzenkandidat der „Piraten“, Andreas Baum, hatte am Wahltag keine Zweifel mehr, dass sich die positiven Meinungsumfragen vor der Wahl am Abend im Ergebnis bestätigen würden. Während er am Vormittag seine Stimme abgab, erreichte die Zeitungsredaktionen eine E-Mail, in der die Partei für Montag zu einer Pressekonferenz einlud. Das Thema: Eine „Einführung in die Arbeitsweise unserer Fraktion“, wie es selbstbewusst hieß. Zumindest in Gedanken hatten die forschen Polit-Neulinge die Fünf–Prozent–Hürde schon längst überstiegen. Im Wahllokal wurde der siegessichere Baum allerdings noch nicht sofort als Politiker erkannt. Erst als er seinen Personalausweis vorlegte, konnte die Wahlhelferin den von Fotografen umringten Mann einordnen. „Das wird schnell gehen“, kündigte er an. „Ich habe mich schon entschieden.“ Das Politiker-Ritual, den Wahlzettel noch ein paar Sekunden lang für die Fotografen in der Luft schweben zu lassen, beherrscht Baum aber noch nicht (oder will es nicht?). Und so ist der Stimmzettel fast ebenso schnell im Schlitz verschwunden wie Baum aus dem Wahllokal.

Kinderspiel. Eltern, die den Nachwuchs mit in Wahllokal brachten, konnten am Sonntag sehr unterschiedliche Erfahrungen machen. Eine Wählerin im Wahllokal in der Pallasstraße in Schöneberg wurde darauf hingewiesen, dass Kinder, auch noch so kleine, nicht hinter den Wahlkabinen herumlaufen dürfen. Wahlgeheimnis! „Warum denn, er kann doch noch gar nicht lesen?“, erwiderte die verdutzte Mutter des knapp dreijährigen Jungen dem eifrigen Wahlhelfer. „Das macht nichts, er könnte ja zum Beispiel laut fragen: Warum machen Sie denn das Kreuz da oben?“ In der Thomas-Mann-Grundschule in Prenzlauer Berg hingegen sah man das entspannter. Dort durften auch kleine Kinder mit in die Wahlkabine. Zumindest wenn sie in einem Tragegestell liegen. Und wenn die Kleinen auf den Wahlzettel kotzen? „Dann ist er ungültig“, sagten die Wahlhelfer.

Wunschkoalition. In der Gudvanger Straße in Prenzlauer Berg ist ein Wähler in Gedanken nicht nur bei der Politik. Er ist um die Fünfzig, lässig gekleidet, und hat ein ganz besonderes Interesse an der Wahl, beziehungsweise an der Direktkandidatin der SPD im Bezirk, deren Flugblatt er mit zur Wahl gebracht hat. Nachdem er gewählt hat, will er von den Wahlhelfern wissen, ob er den Flyer der Kandidatin behalten darf. Er sei seit acht Jahren geschieden, erzählt er. Sie sei Diplom-Ingenieurin, er Bäcker. Beide ungefähr im gleichen Alter. Das würde doch ganz gut passen.

Zeitverschiebung. Die ersten Besucher sind in fast allen Wahllokalen die Rentner. In der Sophie-Scholl-Oberschule in der Schöneberger Pallasstraße greift der erste Wähler um Punkt 8 Uhr zum Stimmzettel. Als ehemaliger Hotelangestellter sei er es gewohnt, früh aufzustehen, erklärt der freundlich entspannte Rentner und winkt lässig ab. „Acht Uhr ist doch nicht früh.“ Früher musste er um fünf aufstehen. Auch in der Blumen-Grundschule dominiert morgens um acht die Haarfarbe grau. „Die wählen auch bei Schnee und Eis“, weiß eine langjährige Wahlbeobachterin über die Damen und Herren zu berichten, die aus dem Seniorenwohnheim nebenan ins Wahllokal strömen. Ganz anders das Bild in Mitte, wie eine Wahlhelferin im Wahllokal in der Grundschule am Arkonaplatz in der Ruppinerstraße weiß. „Der Andrang hält sich noch in Grenzen“, sagt sie einem der wenigen Wähler, die hier schon am Morgen vorbeischauen. „Die jungen Leute frühstücken hier gerne lang.“ Wie auch in Kreuzberg: Nach der traditionellen Frühstückszeit am Sonntag schwillt die Schlange vor dem Wahllokal im Gesundheitsamt in der Urbanstraße noch mal richtig an. Die Leute stehen bis raus auf die Straße. Es ist kurz nach 15 Uhr. Tsp

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