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Berlin: Warum der Mensch ein Nachttier ist

Lange ins Museum, lange an die Bar: Zu später Stunde fühlen wir uns geborgen und gefährdet zugleich

Der Urahn aller Menschen und Affen sah aus wie eine Katze. Eosimias hieß das Tier. Es hatte große Augen, das schließen die Wissenschaftler aus der Form seines Schädels. Und man ist sich fast sicher: Der Eosimias war nachts aktiv. Er mutierte wohl vor rund 40 Millionen Jahren zur nächsthöheren Lebensform. Aber etwas Eosimias muss tief im Inneren vieler Berliner bis heute überlebt haben. Wenn sich die Möglichkeit bietet, finden die sich nämlich nachts in Scharen vor beleuchteten Vitrinen, unter gewaltigen Saurierskeletten oder in der Schlange vor einer brummenden Museumsbar ein.

Sonntag früh ging die 14. Lange Nacht der Museen zu Ende. Gut 120 Museen und Ausstellungen hatten bis zwei Uhr nachts geöffnet. Der Veranstalter meldete mehr als 220 000 Besucher, die zur Geisterstunde vor allem Berliner Dom, Altes Museum und Nationalgalerie bevölkerten. Wer letzten Samstag nicht zur Langen Nacht der Museen wollte, konnte am Samstag mit 4200 anderen Gästen auch zur „Langen Nacht auf dem Südwestkirchhof“ gehen. Die Lange Nacht der Wissenschaften, der Frauen und der Hotelbars“ war dieses Jahr schon. Dafür steht Berlin die erste „Lange Nacht des Verbraucherschutzes“ Ende September bevor. Im Oktober kommt wieder die „Lange Nacht des Shoppings“. Wer so lange nicht warten will, kann auch schon kommendes Wochenende zu den Langen Museumsnächten nach Münster, Koblenz oder Kassel fahren und am Wochenende darauf nach Osnabrück, Tangermünde oder Ellwangen. Es gibt inzwischen über 100 Lange Museumsnächte in Deutschland.

Die Idee zur Mutter aller Langen Nächte entstand bei einem Brainstorming unter Museumsfachleuten, zu dem der frühere Geschäftsführer der Partner für Berlin, Volker Hassemer, eingeladen hatte. „Dann, 1997, haben wir es im Kleinen einfach ausprobiert“, sagt Wolf Kühnelt, der für das Konzept beim museumspädagogischen Dienst (MD) Berlin verantwortlich ist. „Es war eine kalte Januarnacht. Wir ließen ein paar Busse zwischen den zehn Museen hin- und herfahren und organisierten das mit den Tickets.“ Außerdem habe man das „Immobile“ an einem Museum mit „mobilen“ Künsten wie Musik und Schauspiel aufgebrochen. Das zog mehr, als die Erfinder erwartet hatten. Die Besucher kamen mit Kind und Kegel, allein oder in Paaren, vor allem aber – laut Umfragen ist das typisch für Berlin – „in großen Freundesgruppen“. Ein toller Erfolg, nur: Was macht ein Museum bei Nacht eigentlich so interessant?

Der Mix aus „Geborgenheit und Ausgesetztsein“ mache den Reiz einer nächtlichen Unternehmung aus, sagt Kulturphilosoph Dieter Thomä. „In der Nacht wird die Welt zu einem Kissen. Sie wird einfach, weniger kompliziert, Details verschwinden. Die Augen ruhen sich aus.“ Gleichzeitig birgt sie Gefahren. „Sie droht wie ein dunkler Wald, in dem man laut singt und pfeift, um sich Mut zu machen. Die Augen schauen intensiver.“ Die Lange Nacht der Museen biete beides. Behaglich geht’s organisiert im schützenden Bus von Museum zu Museum. Da weiß man, was man anzusehen hat. Und doch ist es nicht normal, nachts um halb zwei bei Musik neben einem Saurierskelett zu stehen. Etwas einfacher erklärt das „besondere Flair“ den Erfolg der Langen Nächte. „Nachts sind die Menschen weicher“, sagt Wolf Kühnelt. „Sie hetzen nicht aneinander vorbei.“

Eine Wissenschaft wie „Flairologie“ muss man erst erfinden. In der Praxis allerdings haben Museumspädagogen, Architekten und Marketingmanager die Inszenierung der „dritten Orte“ – nach Heim und Arbeitsplatz – als hohe Kunst entdeckt. Kulturkaufhäuser locken mit Bars, Sesseln und langen Öffnungszeiten. Die Mutter aller Langen Nächte wirkt längst als Marke. Das legen Ideen wie die „Lange Nacht des Einfamilienhauses“ nahe.

Till Schröder

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