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Berlin: Wegen Entsetzens geschlossen

Der Charlottenburger Buchhändler Winfried Melchers will auch ein Jahr danach mit Plakaten Zeichen setzen

Von Claudia Keller

Im Boden vor der Eingangstür ist ein Gitter eingelassen. Von dort führt eine gelbe Plastikröhre in den Keller. Das ist die Lebensader der Charlottenburger Buchhandlung „Lesefieber“. Denn der Laden hat ein ganz eigenes Vertriebssystem. Es funktioniert selbst dann, wenn das Geschäft zu ist: Man sucht sich aus den Kisten auf dem Bürgersteig ein Buch aus und wirft die Euro für den Kaufpreis zwischen die Gitterstäbe. Und da in Charlottenburg so viele ehrliche Leute wohnen, trägt sich der geschlossene Laden quasi von selbst.

Der Preis für die Bücher ist so niedrig, dass sich das Klauen auch gar nicht lohnen würde. Die Bücher sind gebraucht, der Laden ist eher so eine Art Buch-Recycling-Station. „Und ich kann derweil segeln gehen“, sagt Winfried Melchers. Er ist groß und hager, hat blaue Jeans an und ein weiß-blau gestreiftes Hemd. Er ist der Herr der Bücherkisten. Der 60-Jährige arbeitet als Übersetzer und träumt davon, demnächst ein Haus im Languedoc zu kaufen. Was für ein Leben!

Aber dann sagt Melchers: „Dieses Jahr war heftig. Mein Glaube ans Gute ist zerbröckelt.“ Schuld an Melchers düsterer Stimmung sind nicht Bücherdiebe, sondern der 11. September 2001. Am Tag danach hat der Buchhändler ein Schild ins Schaufenster gehängt, auf dem stand: „Wegen Entsetzens geschlossen“. Alles kam ihm an diesem Tag sinnlos vor, sagt Melchers, dennoch habe er ein Zeichen setzen wollen. Dass er das ernst meint, kann man an seiner Stirn ablesen, die sich jetzt in Falten legt. Menschen seien „verbraucht“ worden, wehrlose, unschuldige Menschen, umgebracht, ausgelöscht. Ob ihn die Kunden auf sein Plakat letztes Jahr angesprochen haben? „Kein einziger. New York ist hier weit weg.“

Sein Sohn hat ihm übers Handy erzählt, dass zwei Flugzeuge ins World Trade Center geflogen sind. Was faselt der nur, habe er sich gefragt, das ist doch ein Film. Für den Rest des Tages habe er dann nur noch auf diese Fernsehbilder gestarrt, wie benommen. „Verbraucht“ – das ist der Begriff, auf den Melchers sein Grauen bringt. Vielleicht weil er sich tagtäglich damit beschäftigt, dass Dinge wieder und wieder gebraucht werden, dass Bücher nicht einfach weggeschmissen werden, sondern mit jedem Leser neu zu leben beginnen.

Die Stimmung habe sich seit dem 11. September verändert, sagt Melchers. Die Eskalation des Nahost-Konflikts, die Möllemann-Karsli-Affäre. Dass die Amerikaner angeblich selbst Schuld seien an dem Anschlag, genauso wie die Israelis am Hass der Palästinenser, das ist für ihn dabei die perfideste Anschuldigung.

Sein Entsetzen hat nach 365 Tagen nicht abgenommen. Im Gegenteil. Jetzt ist Melchers auch noch darüber entsetzt, wie wenig die anderen heute noch entsetzt sind, wie schnell die Dimensionen von New York vergessen wurden. „Dabei sind wir seitdem im Krieg, immer noch.“

Da betritt ein gebräunter älterer Herr mit einem kleinen weißen Terrier den Laden. Er sucht „Die schönsten Hundegeschichten“, die er gestern in einer Kiste entdeckt hat. Weil es ihm am Vortag an Kleingeld fehlte, hatte er das Buch in der Kiste liegen lassen. Melchers erinnert ihn an den Grundsatz, nachdem Bücher vor Geld gehen, man ruhig ein Buch schon mal mitnehmen sollte. „Das bring’ ich nicht über mich“, sagt der Herr, „so bin ich nicht erzogen.“ Als der Mann den Laden verlässt, hängt Melchers zwei Plakate ins Fenster: „Auch noch nach einem Jahr: Wegen Entsetzens heute geschlossen.“

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