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Jouana Maetsch muss regelmäßig die Blutzuckerwerte ihres Sohnes Matteo messen, damit er nicht unterzuckert.

© Felicia Klinger

Wegen neuer Berliner Verordnung: Kinder mit Diabetes finden häufig keine Schulhelfer mehr

An Diabetes erkrankte Kinder brauchen in der Schule deutlich mehr Unterstützung. Doch Schulhelfer werden vom Land Berlin nicht mehr so einfach genehmigt.

Da ging mir ganz schön die Pumpe“, sagt Jouana Maetsch und klopft mit der Faust auf ihre Brust. Sie erinnert sich an letzten Mai und die Ungewissheit darüber, ob und wie ihr Sohn Matteo eingeschult werden kann. Matteo ist jetzt Erstklässler. Und er hat Diabetes Typ 1. Er muss regelmäßig seinen Blutzucker kontrollieren. Ist dieser zu niedrig, wird er bewusstlos. Für die Blutzuckerkontrolle braucht er Unterstützung. Doch die zu organisieren, ist schwer.

Verantwortlich dafür ist eine Änderung der Berliner Sonderpädagogikverordnung. Bis September 2019 haben Schulhelfer Kinder mit Diabetes durchgehend während der Schulzeit mitbetreut. Die Schulhelfer werden vom Land Berlin bezahlt. Kinder mit Diabetes erhalten nach der Änderung keine Unterstützung mehr von Schulhelfern, wenn diese auch pflegerische Pflichtleistungen der Krankenkassen übernehmen.

Die Überwachung der Mahlzeiten und die Insulingabe soll aber ein Kinderpflegedienst übernehmen. Dieser wird von den Krankenkassen bezahlt. Das Problem: Die Kinderpflegedienste in Berlin sind überlastet. „Wir haben zig Pflegedienste abtelefoniert“, sagt Jouana Maetsch, „und alle würden sich sehr gerne um meinen Sohn kümmern. Sie haben aber keine Kapazitäten.“ In diesem Fall könnten zwar auch Schulhelfer einspringen. Doch die Genehmigung der Schulhelferstunden zieht sich. Jouana Maetsch hat eine ruhige, helle Stimme. Ihre blonden Haare hat sie zusammengesteckt.

Die Deutsche Diabetes-Hilfe hat eine Petition gestartet

Matteo lugt neugierig hinter der Tür zum Wohnzimmer hervor. Seine wuscheligen Haare fallen ihm ins Gesicht. Matteos Familie hat von der Verordnung erst im Mai über eine Whatsapp-Gruppe von Diabetes-Eltern erfahren,erzählt Jouana Maetsch. „Das kann nicht euer Ernst sein, habe ich mir gedacht“, sagt sie. Ein Jahr vor der Einschulung hatte sie die Schulhelferstunden beantragt. Ob Matteo von einem Schulhelfer in den Unterricht und in die Pausen begleitet wird, konnte ihr weder das zuständige inklusionspädagogische Unterstützungszentrum (Sibuz) noch die Schule beantworten.

Die Selbsthilfeorganisation „Deutsche Diabetes-Hilfe – Menschen mit Diabetes“ (DDH-M) hat sich Ende Juli mit einer Petition an das Berliner Abgeordnetenhaus gewandt. Sie fordert die Beibehaltung schulunterstützender Maßnahmen und eine Übergangsfrist für das aktuelle Schuljahr. „Danach soll eine neue Lösung greifen, bei der die Kosten zwischen dem Land Berlin, den Krankenkassen und weiteren Kostenträgern geteilt werden. Ziel ist die dauerhafte Übernahme der Behandlungspflege durch dafür ausgebildete Schulhelfer“, heißt es in der Petition.

Viele Mütter geben wegen der Krankheit ihren Beruf auf

Mitte Juni erhielt Familie Maetsch eine Email voller Aufgaben. Sie habe eine Woche Zeit, eine ärztliche Verordnung und die Kostenübernahme der Krankenkasse zu besorgen sowie die Pflegedienste abzutelefonieren. „Da dachte ich, ich kippe hinten über, ich gehe ja noch arbeiten,“ sagt Jouana Maetsch. Sie ist Pädagogin in einem Kindergarten. Es gebe aber Mütter von Diabetes-Kindern, die ihren Beruf aufgeben und sich selbst als Schulhelfer anstellen lassen, um ihr Kind zu versorgen. „Ich finde, da stimmt doch etwas nicht in dem ganzen System“, sagt Matteos Mutter.

Jouana Maetschs Eindruck deckt sich mit den Ergebnissen einer Studie, die 2019 an der Medizinischen Hochschule Hannover durchgeführt wurde. Die Studienleiterinnen Andrea Dehn-Hindenberg und Karin Lange haben die Alltagsbelastungen von Müttern mit Diabetes-Kindern untersucht. Das Ergebnis: 39 Prozent der befragten Mütter reduzieren ihre Berufstätigkeit und zehn Prozent hören ganz auf zu arbeiten. Bei Vätern ergeben sich kaum Veränderungen.

Bis jetzt ist unklar, wie viele Stunden Matteo genehmigt bekommt

Die Sommerferien begannen für Familie Maetsch mit großen Ungewissheiten. Es bleibt unklar, wie viele Schulhelferstunden er genehmigt bekommt. „Es ist für mich eigentlich utopisch, sich vorzustellen, wie mein Kind in die Schule kommen soll“, sagt Jouana Maetsch noch fünf Tage bevor Matteo seine erste Schulstunde hat. Sie könne verstehen, dass eine pflegerische Leistung von den Krankenkassen und nicht vom Land Berlin bezahlt werden soll. „Aber warum tragen sie das auf dem Rücken der Diabetes-Kinder und deren Eltern aus, die sowieso schon so viel am Hacken haben?“

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„Viel am Hacken haben“, das bedeutet für Familien mit jungen Diabetes-Kindern: „schlaflose Nächte, Sorgen um den geliebten Menschen, Zukunftsängste, gemeinsame Krankenhausaufenthalte, Verzweiflung und Ohnmacht, ständiges Denken an irgendwelche Zahlen, das Ertragen von Unterzuckerungs-Wutausbrüchen und anderen diabetesbedingten Stimmungsschwankungen.“ All das zählt Sandra Neumann auf. Sie ist Diabetes-Coach in Oberschöneweide und hat selbst zwei Kinder mit Diabetes Typ 1 großgezogen. „Obwohl ich gerne erzähle, dass ich vier Kinder habe“, sagt sie, „meine zwei Kinder und zweimal Diabetes dazu. So hat sich das zumindest angefühlt.“ Für die Sorgen der Eltern, Geschwister und Freunde eines Diabetikers nutzt sie die Bezeichnung „Diabetes Typ F“. F wie Familie und Freunde.

Jouana Maetsch schult die Lehrer selbst

Matteos Familie weiß von seiner Erkrankung seit er fünf Jahre alt ist. Heute ist er sechseinhalb Jahre alt. Es habe etwas gedauert, bis sie sich mit dem Messen der Blutzuckerwerte, der Berechnung der Kohlenhydrate und der Interpretation der Werte sicher waren, sagt Jouana Maetsch. Ihr Wissen hat sie an die Erzieherinnen in Matteos Kindergarten weitergegeben. „Die fühlten sich zum Schluss sicher“, sagt sie. Jetzt kommt Matteo in die Schule und muss auch dort unterstützt werden. Da die Schulhelferstunden noch nicht genehmigt sind, versucht Jouana Maetsch die Lehrerinnen der Grundschule selbst zu schulen.

Eine Woche vor Matteos Einschulung geht sie täglich mit ihm in den Unterricht. Auf die Lehrer komme ein großes Paket an Informationen zu. Sie versuche das, ganz Pädagogin, „Stück für Stück und ganz vorsichtig“, zu vermitteln. „Aber wir sind ja selber teilweise total verunsichert und müssen gleichzeitig den Lehrerinnen Mut zusprechen“, sagt sie. Das Land Berlin setze mit der Änderung auf die Freiwilligkeit der Pädagogen, die das zusätzlich leisten. „Ich als Mutter bin grundsätzlich im Bettelstatus. Ich bin immer abhängig davon, machen die das jetzt oder machen sie es nicht. Der Inklusionsgedanke ist wunderschön, aber dann muss ich auch etwas für die Pädagogen tun, verdammt noch mal“, sagt Jouana Maetsch und wird lauter.

Bei Unterzuckerung drohen Wutanfälle

Matteo zupft an der Bluse seiner Mutter. Die erzählt, dass er schon dreistellige Zahlen lesen könne. Sogar kopfüber. An seiner Jeans hängt ein kleines graues Gerät, die Insulinpumpe. Auf dem Display steht 159 mg/dl. Das ist sein Blutzuckerwert, der über einen Sensor gemessen wird. Trotzdem muss sein Blutzucker immer wieder manuell überprüft werden. „Von den Diabetes-Kindern wird unglaublich viel verlangt. Am besten sollten die sofort alles selbstständig managen können“, sagt Jouana Maetsch. Matteo kann Zahlen lesen. Aber er weiß noch nicht, wann er einen Apfel essen sollte oder Sport machen darf.

Zusammen mit der Schule hat Jouana Maetsch einen Plan erstellt, damit Matteo den Schultag gut meistert. Seine Lehrerin hilft ihm beim Blutzuckermessen. Ein Schulhelfer, der schon vor Ort ist, begleitet ihn zum Mittagessen. „Eigentlich könnte er ein ganzes Schwein essen“, sagt Matteos Mutter. Nur Kartoffeln, Reis, Obst, alle Lebensmittel mit Kohlenhydraten müssen zu jeder Mahlzeit neu berechnet werden. Der Caterer wiegt die Portionen und der Schulhelfer beobachtet, wie viel Matteo wirklich isst. Auf dieser Grundlage berechnet er dann die Broteinheiten (BE), gibt sie in Matteos Insulinpumpe ein, die dann die nötige Insulinmenge an Matteo abgibt. Sie ahmt die Funktion einer gesunden Bauchspeicheldrüse nach, erklärt Jouana Maetsch.

Nachschlage-Heft und ein Notfallhandy hat die Mutter organisiert

In Matteos Schultasche steckt ein Notfallhandy und ein kleines Nachschlage-Heft, das seine Mutter geschrieben hat. Darin steht zum Beispiel, dass er bei einem Blutzuckerspiegel von unter 100 mg/dl erst mal 200ml Milch trinken sollte, bevor er Sport macht. Zeigt das Messgerät einen Wert von unter 50 mg/dl muss Matteo dringend zwei Plättchen Traubenzucker essen. „Bei jeder kleinsten Frage können die Lehrerinnen mich über das Notfallhandy erreichen“, sagt Jouana Maetsch. Inzwischen sei sie ruhiger geworden. Die Schule versuche alles zu ermöglichen, was notwendig ist, damit es Matteo gut geht.

Es ist 16 Uhr. Zeit, um Matteos Blutzucker zu messen. Jouana Maetsch desinfiziert seinen rechten Ringfinger und pikst mit einer Stechhilfe in die Fingerkuppe. Matteo schaut konzentriert auf seine Hände. Seine Mutter hält den Teststreifen des Messgeräts in den kleinen Bluttropfen. Alles in Ordnung. Matteo umarmt seine Mama und würde jetzt gerne „ein bisschen Schokolade essen“.

Fünf Tage später ist der erste Schultag geschafft. Matteo hat es gut gefallen. „Es war eine große Freude, sehen zu können, wie freundlich und liebevoll der Umgang untereinander und auch durch die Lehrerin ist“, schreibt Jouana Maetsch per Whatsapp. Wie viele Schulhelferstunden Matteo genehmigt bekommt, weiß sie immer noch nicht. Aus der Senatsverwaltung heißt es, dass in Zusammenarbeit mit den Krankenkassenverbänden darüber beraten werde, wie die Finanzierung der Pflegedienste und Schulhelfer zukünftig erfolgen kann. Ziel dieser Abstimmung sei, die Leistungserbringung aus einer Hand zu ermöglichen.

Felicia Klinger

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