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Aufwachsen in der Platte. Die Probleme vieler Familien hier ähneln sich, weiß die Autorin aus eigener Erfahrung.

© picture alliance / dpa

Roman über Marzahner Jugendamt: Wenn Kinder zur Strafe auf dem Balkon ausgesperrt werden

Diana Lehmann arbeitet im Jugendamt im Berliner Osten. Die wachsenden Probleme sind ihr täglicher Job. Jetzt hat sie ein Buch darüber geschrieben.

Montagmorgen, es regnet und das Telefon klingelt. Ewa schaut auf die Uhr. 8.57 Uhr. Um neun beginnt ihr Bereitschaftsdienst. Sie wird keine Minute früher ans Telefon gehen. Wenn Ewa aus dem Fenster schaut, hat sie das gesamte Krisengebiet vor sich. Plattenbauten, soweit das Auge reicht. Was wird wohl heute auf sie zukommen? Wo hat es diesmal am Wochenende geknallt? Eine ihrer wohlbekannten Problemfamilien oder schon wieder ein neuer Fall?

Ewa ist Sozialarbeiterin im Marzahner Jugendamt – zentrale Figur in Diana Lehmanns Roman „Berlin.Plattenbau“. Sie ist für über 140 Familien zuständig. Käme ein neuer Fall rein, hätte sie eine Familie mehr. Hört das nie auf? Ein Kind wird verprügelt, ein Kind wird geliebt, denkt sie oft. „Hoffnung und Verzweiflung getrennt durch dünne Wände.“

[Aus dem Archiv: Lesen Sie hier nochmal die große Reportage über die Arbeit des Marzahner Jugendamtes - unterwegs mit dem Krisendienst.]

Und das Telefon klingelt und klingelt. Es meldet sich eine Lehrerin, die sich um eine Schülerin sorgt, nachdem sie am Freitag die Wohnung ihrer Familie gesehen hatte. Vermüllt, betrunkene Eltern, kleinere Kinder in der Obhut ihrer älteren Halbschwester, die obendrein auch noch den Nachschub an Bier organisieren muss. Da muss man doch was unternehmen! Können Sie die Kinder da nicht rausholen?

Keine echten Fälle - aber Geschichten nah an der Realität

So beginnt die Geschichte von Leni, einer 15-jährigen Schülerin aus Marzahn, wunderbar aufgeschrieben von Diana Lehmann, die den Ausblick ihrer Protagonistin Ewa Degenhardt auf das Krisengebiet selbst täglich vor Augen hat.

Eigentlich habe sie nicht viel erfunden, sagt Diana Lehmann. „Klar, dass es den geschilderten Fall so nicht gibt. Aber diese vermüllten Wohnungen, alkoholabhängige Eltern, zur Strafe auf dem Balkon ausgesperrte Kinder – ja, das habe ich alles schon erlebt.“ Der Schutz der Persönlichkeitsrechte ihres Klientels habe Vorrang. „Das macht es nicht gerade leichter, so ein Buch zu schreiben.“

Nur, weil es den Fall der Familie Steffens nicht gibt, kann Diana Lehmann, Mitte 30 und seit vier Jahren im Jugendamt Marzahn-Hellersdorf tätig, ihn so genau beschreiben. Da ist der tyrannische Stiefvater, der den Tag, Bier trinkend mit Lenis Mutter, im heruntergekommenen Wohnzimmer der Familie verbringt und sich nachts an den Kindern vergreift. Oder die überforderte Mutter, die den äußeren Anschein kaum noch aufrechterhalten kann.

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Lange hat Diana Lehmann die Idee mit ihrem Jugendamtsroman mit sich herum getragen. Eine Kollegin hat ihr Mut gemacht. Am Ende sind es drei Jahre Arbeit am Buch geworden, neben dem Job und der Versorgung der beiden Söhne, die ihre Mutter an manchen Wochenenden kaum noch zu Gesicht bekamen.

Sozial schwache Familien aus anderen Bezirken werden hierher verdrängt

Die Arbeit im Jugendamt Marzahn-Hellersdorf ist hart: Die Probleme vieler Familien ähneln sich, es scheint, als handelten sie alle nach dem gleichen, ungeschriebenen Plan. Die Möglichkeiten des Amtes sind begrenzt. Spätestens in Kita und Schule fällt auf, was die Kinder alles nicht können. Die Kosten für Jugendhilfe – Heimunterbringungen, betreute Jugendwohngemeinschaften, Einsatz von Familienhelfern – sind seit Jahren ungewöhnlich hoch im Bezirk und sie steigen schnell.

Ein wichtiger Grund ist die Verdrängung sozial eher benachteiligter Menschen aus Innenstadtbezirken, die schließlich in Marzahn-Hellersdorf landen, einem Bezirk, der sich in den vergangenen Jahrzehnten vom realsozialistischen Traum in einen sozialarbeiterischen Alptraum verwandelt hat.

Aus diesem Alptraum berichtet Diana Lehmann. Es hätte ein furchtbares Gemenge von bekannten Klischees werden können, wurde es aber nicht – indem die Autorin in den Abenteuern der 15-jährigen Leni die tragische Geschichte ihrer Mutter Stück für Stück freilegt.

Um sich nicht von einem Verlag hineinreden zu lassen („Was ist ein denn das für Titel? Geht gar nicht“), hat sich die Autorin früh entschieden, ihren Erstling selbst drucken zu lassen und sich dabei eines Angebots von Amazon bedient, mit der Folge, dass es das Buch zwar bei Amazon, aber nur in wenigen Buchhandlungen zu kaufen gibt. Selbstfinanzierte Startauflage: 100 Stück.

Die werden kaum reichen, schon wegen des ungewöhnlich realitätsnahen Blicks über Ewas Schulter. Lenis Geschichte nimmt ein gutes Ende, aber welches Marzahner „Problemkind“ hat schon so tolle und verständnisvolle Großeltern wie Leni? Und welches dieser Kinder kann sich, wie Leni, selbst aus seiner misslichen Lage befreien?

Der Autor dieses Textes arbeitete selbst mehrere Jahre sowohl als Familienhelfer in Marzahn als auch im Jugendamt Marzahn-Hellersdorf.

Uwe Soukup

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