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Invalidenfriedhof an der Scharnhorststraße in Berlin Mitte.

© Doris Spiekermann-Klaas

Nachruf auf Edith Richter (Geb. 1920): Wo ist die Heimat?

Sie lebte 40 Jahre im Sudentenland, das ihr vertraut blieb und fremd geworden war. Erst 15 Jahre nach dem Krieg ließ man sie heraus. Die Lebensgeschichte einer Frau, die ihren Ort verloren hat.

Meine Heimat ist das Sudetenland, begann Edith Richter ihre Aufzeichnungen. Sie saß am Schreibtisch in ihrem Haus in Waldkraiburg, sie war 82. Seit 43 Jahren lebte sie in Oberbayern. Auf 132 maschinengeschriebenen Seiten erzählte sie ihr Leben für die Kinder, die Enkelkinder.

Es ist keine politische Stellungnahme, und doch ragt das Politische vehement in Edith Richters Leben und in den Text.

Das „Sudetenland“ war ein heterogenes Gebiet an der tschechisch-deutschen und tschechisch-österreichischen Grenze, das Teile von Böhmen, Mähren und Schlesien umfasste und zu größeren Teilen von Deutschen besiedelt war. Die Bezeichnung wurde eigentlich erst ab 1918 gebraucht, nach der Auflösung Österreich-Ungarns, und der Niederlage des Deutschen Kaiserreichs. Genau genommen ist Ediths Heimat die Stadt Tetschen, Decín.

Bilder aus dieser Zeit tauchen wie Blitze in der Erinnerung auf, ein üppig geschmückter Christbaum mit bunten Marzipanfrüchten, umgeben von Nachbarskindern, meine Käthe Kruse-Puppe, die ich über alles liebte, Spaziergänge ins anschließende Dorf, wo ich den Takt der Dreschflegel aus den offenen Scheunen noch im Ohr habe.

Ediths Vater: Buchhalter in einer Fabrik für ätherische Öle, Essenzen und Fruchtsäfte. Ediths Mutter: von zarter Gesundheit. Edith selbst: ein scheues Kind. Man meldete sie im Turnverein an, um ihre Scheu zu vertreiben. Eines Tages nahm sie an einem Turnfest teil, die Mütter der anderen Kinder saßen auf der Tribüne; nur Edith war allein, denn ihre Mutter lag fiebernd zu Hause.

Meine große Verlassenheit unter all den fröhlichen Leuten spüre ich heute noch. Kurz darauf kam ihre Mutter in ein Lungensanatorium.

Sie gelangte noch einmal zu Kräften, doch dann verschlimmerte sich ihr Zustand wieder. Schon lange durfte ich ihr wegen der Ansteckungsgefahr nur aus gewisser Entfernung zuwinken. Am 9. Mai 1929, um 15 Uhr, hatte sie ausgelitten. Sie war noch nicht 36 Jahre alt. Draußen wartete der gläserne Leichenwagen, gezogen von zwei schwarzen Pferden.

Geografisch war die Heimat unangetastet, ein Element aus ihr aber herausgerissen.

Männer, die sie kannte, starben an der Front

Der Vater nahm sich eine neue Frau. Was Edith ein wenig tröstete, waren das lachsfarbene Taftkleid und die Seidenstrümpfe, die sie zur Trauung tragen durfte. Am 1. September 1934 wurde sie in Kuttenberg, Kutná Hora, in das Kloster der Ursulinen eingeschult. Der Abschied von den Eltern war sehr abrupt, dazu der Klang der fremden Sprache, machte mir ein banges Gefühl. Anschließend, ihr Vater wollte es so, ging sie auf die Handelsakademie.

Nach dem Münchner Abkommen besetzte die deutsche Wehrmacht im September 1938 das Sudetenland, im März 1939 schließlich marschierten die Deutschen in die restlichen Teile Böhmens und Mährens ein. Edith schreibt: Dass wir Grenzlanddeutschen ein ausgeprägteres Nationalbewusstsein hatten als die Binnendeutschen, das hatte sich ganz natürlich ergeben. Als Minderheit unter den Tschechen mussten wir uns behaupten. Was sie nicht erwähnt: Hitler und die NSDAP hatten ab 1933 die Sudetendeutsche Partei unterstützt und so die Konflikte der verschiedenen Nationalitäten verschärft. Und: Die Deutschen waren keineswegs in der Minderheit. Von den 3,6 Millionen Einwohnern des zuerst annektierten Gebietes waren 2,9 Millionen Deutsche.

In der Schule ging alles normal weiter. Am 1. September 1939 überfiel Deutschland Polen. Die Jahre gingen dahin. Edith arbeitete bei der städtischen Finanzverwaltung, fuhr zum Skifahren ins Riesengebirge, sah in Dresden den „Faust“ mit Gustaf Gründgens, junge Männer, die sie kannte, starben an der Front.

Am 8. Mai 1945 gab es einen sowjetischen Fliegerangriff auf Tetschen. Edith rettete sich in den Keller. Wir hatten große Angst vor den Russen, da alle möglichen Schilderungen über Plünderungen, Gräueltaten, Vergewaltigungen den Truppen schon vorausgegangen waren.

Die Heimat, versehrt, aber noch immer da; die politische Lage völlig verändert. Sie begann dennoch, wieder in der Verwaltung zu arbeiten. Ihr Vorgesetzter war jetzt ein Tscheche. Überhaupt, überall waren jetzt Tschechen. Sie waren gekommen, um in den bisher rein deutschen Gebieten die Aufgaben von Deutschen zu übernehmen. Die Tschechen demütigten die Deutschen, steckten sie in Straflager, begingen maßlose Grausamkeiten, schmissen sie aus ihrem Land, so sah sie es. Was sie an keiner Stelle erwähnt: die maßlosen Grausamkeiten der Deutschen.

Sie zogen nach Oberbayern

Auch ihre Familie sollte gehen, im letzten Augenblick aber entschieden die Behörden, dass sie bleiben mussten. Zuerst brutale Vertreibung, nun gewaltsame Zurückhaltung von Fachleuten. Die Heimat, die Stadt, die Wiesen, die Wälder, äußerlich intakt; das Leben in dieser Heimat jetzt: eine Zumutung.

Edith fasste den Entschluss zur „freiwilligen Aussiedlung“, doch man ließ sie nicht raus. Antrag, Ablehnung, erneuter Antrag, erneute Ablehnung. Das Spiel wiederholte sich bis 1959. In der Zwischenzeit lernte sie ihren Mann kennen, der einen Sohn hatte, seine Frau war gestorben, und Edith bekam mit ihm eine Tochter. Unsere Kinder bekamen Lederhosen von Verwandten aus Deutschland. Ganz bewusst wollten wir damit ausdrücken, dass wir Deutsche waren. 1960 erhielten sie die Ausreisegenehmigung.

Das Glück, nicht mehr in der Heimat sein zu müssen. Sie zogen nach Oberbayern, nach Waldkraiburg, von sudetendeutschen Vertriebenen 1950 gegründet. Sie bekam eine Stelle in der Stadtkämmerei, reiste mit der Familie, die Kinder studierten. Sie spricht jetzt von der neuen Heimat. Die rissig wurde. 1976 starb ihr Mann im Krankenhaus. An seinem Bett gebe ich meinem Mann meine Hand zum Abschied, er drückt sie fest und küsst sie wie in glücklichen Tagen.

Sie schreibt weiter: Mich fügen in die neue Wirklichkeit braucht Zeit. 1980 die Geburt ihrer ersten Enkeltochter. Nun wusste ich wieder, warum ich noch lebe. 1983 die Geburt der zweiten Enkelin. Steige, wie so oft, ins Flugzeug nach Berlin – zur Familie ihrer Tochter.

Die Heimat war weit geworden

Dann fiel die Mauer – und sie konnte die alte Heimat wiedersehen. Einen Tag nach ihrem 70. Geburtstag und 30 Jahre nach ihrer Ausreise fuhr sie los. Der Tonfall in ihrem Bericht ist beides, froh und spitz. Sie spricht von den überwältigenden Erinnerungen, und von der Suche nach dem Bauernhaus, in dem wir in glücklicher Familie viele Ferienwochen verbracht hatten. Es existierte nicht mehr. Abgebrannt hieß es. Wir mussten uns abfinden, bauten hinter der Scheune unser Lager auf. Sogleich meldete sich der tschechische Nachbar und gab sich als Eigentümer aus.

Einen Monat darauf dieselbe Ambivalenz. Sie reiste ein zweites Mal nach Dxmín, nun anlässlich eines Klassentreffens. Die ehemaligen Schüler durften das immer noch als Schule genutzte Gebäude besichtigen: Die Wände in den Gängen mit billigen Papiertapeten beklebt. Es war doch ein so schönes, gepflegtes Haus. Und nach einer Fahrt in die Umgebung: Erschütternd der Anblick der durch das Waldsterben verursachten Schäden. Alles war besser, früher.

Die folgenden 20 Jahre verbrachte sie fast ununterbrochen auf Reisen, am Lago Maggiore, auf Sylt, Mallorca und Korsika, in Salzburg und der Toskana, und immer wieder in Berlin. Die Heimat war weit geworden.

Sie wurde alt, sie spürte es bei jedem Schritt. Die Hüftbeschwerden nahmen zu, sie musste sich operieren lassen und dann wochenlang zur Reha. Sie begann, „Essen auf Rädern“ auszuprobieren. Ihre Wege mit dem Rollator zum Friedhof wurden selten und immer mühseliger.

Sie ließ sich regelmäßig Vitamin B spritzen, in der Hoffnung, dass es mich wieder auf Touren bringt. Doch ihr Körper sträubte sich.

Sie entschloss sich, nach Berlin zu ziehen, in ein Altenheim in die Nähe ihrer Tochter. In eine dritte Heimat. Auch wenn sie, nach den Jahren und den zurückgelegten Wegen, immer wieder diesen Satz gesagt hatte: Meine Heimat ist das Sudetenland.

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