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Berlin: Wohnzimmer mit Auszeichnung

Von Kindern bis Senioren: Im Nachbarschaftshaus Urbanstraße ist Platz für den ganzen Kiez. Dafür gab es jetzt einen Bundespreis

Ein Donnern grollt durch das Nachbarschaftshaus Urbanstraße in Kreuzberg. Kurze Irritation bei den Besuchern, die hereinkommen. Eine freundliche Mitarbeiterin winkt ab: „Das sind nur die Kinder, die oben in der Kita über den Holzboden toben.“ Mehr als 50 soziale Projekte kann der Trägerverein vorweisen. Das Begegnungszentrum soll für alle Altersgruppen eine Anlaufstelle sein, sagt Geschäftsführer Matthias Winter.

Das Konzept geht offenbar auf: Für sein familienfreundliches, generationenübergreifendes und multikulturelles Engagement hat der Verein jetzt den Bundespreis „Netzwerk Nachbarschaft“ erhalten. „Der Preis beweist, dass unser Angebotsspektrum funktioniert“, sagt die Vorstandsvorsitzende Andrea Brandt. Und das, obwohl nur noch ein Viertel der Gelder, die vom Land Berlin noch vor zehn Jahren bewilligt wurden, zur Verfügung stünden.

Die Uhr zeigt kurz vor zwölf. Gerhard Köhler ist einer von rund einem Dutzend Senioren aus dem Kiez, die im Nachbarschaftshaus auf eine warme Mahlzeit warten. Geduldig legt er seine Herrentasche ab. „Ich wohne quer über die Straße, muss dann weder einkaufen noch abwaschen“, sagt er. Der 88-Jährige kennt das Haus seit über 70 Jahren. Als Abiturient hat er im Saal des 1913 ursprünglich als Offizierskasino geplanten Gebäudes auf seine Abschlussprüfung angestoßen. Als Familienvater hat er in den siebziger Jahren im Garten mit seinen beiden Söhnen Federball gespielt. Seitdem seine Frau vor vier Jahren gestorben ist, kommt der pensionierte Mathe- und Physiklehrer täglich zum Mittagessen.

Heute gibt es Kartoffeln mit Spinat und Ei. Ein einfaches Essen. Aber für die Senioren ist es mehr als eine Mahlzeit: ein Anlass, aus der Einsamkeit in der Wohnung herauszukommen. Eine Gelegenheit, einen Plausch zu halten oder gar nach dem Essen noch zu bleiben, die Karten aus der Tasche zu ziehen und Canasta zu spielen. „Für die Senioren ist das Haus ein zweites Wohnzimmer geworden“, sagt Mitarbeiterin Christa Hagemann. Gymnastikkurse, eine Theatergruppe, Video-AG, Gedächtnistraining und ein Singkreis locken seit 1955 ältere Bürger aus dem Kreuzberger Süden in das Gebäude, das zur einstigen Blücher-Kaserne gehörte.

Kamen in den fünfziger Jahren vor allem Ältere, richtet sich ein Großteil der Projekte inzwischen an Familien und Migranten. Der Bezirk hat sich verjüngt. Mittlerweile leben in FriedrichshainKreuzberg die wenigsten Senioren in Berlin. Ein kleiner Rundgang verrät, was die Angebotspalette umfasst. Im Obergeschoss spielen die Kinder von einer der beiden Kindertagesstätten, während im Kaminzimmer 20 zumeist ältere Damen nach dem wöchentlichen Frauenfrühstück einen Vortrag über die Heilige Elisabeth von Thüringen hören. Derweil laufen im Keller die Essensvorbereitungen. Im Eiltempo schnippeln Köchinnen Möhren, rühren in Töpfen, ziehen Backformen aus dem Ofen. Es duftet nach Käsekuchen. „Pottporree“ heißt das Beschäftigungsprojekt, in dem zehn ehemalige Langzeitarbeitslose ins Berufsleben zurückfinden. Vom Nachbarschaftshaus aus beliefern sie Kitas, Seniorenwohnheime und Schulen.

Mit seinen Projekten ist das Nachbarschaftshaus längst zu einer wichtigen Institution im Sozialangebot des Bezirks geworden. Die rund 60 festangestellten und 80 ehrenamtlichen Mitarbeiter arbeiten nicht nur im Haus, sondern bieten in der Werner-Düttmann-Siedlung und im Graefe-Kiez vor allem für Migranten Jugendclubs an, besuchen Familien, vermitteln ehrenamtliche Aufgaben, geben Deutschkurse oder informieren in Rechts- und Schuldenfragen. Über 20 Prozent der Bewohner sind arbeitslos.

Perspektiven schaffen, die Lebensbedingungen verbessern und aus der Ghettoisierung herauskommen – das seien die Aufgaben für die nächsten 20 Jahre in den Kiezen, meint Geschäftsführer Winter. Manchmal schließen sich sogar völlig unerwartet die Kreise. So etwa neulich, als eine pensionierte Bibliothekarin anbot, ihre Freizeit dafür zu verwenden, Migrantenkindern bei den Hausaufgaben zu helfen. Dann freut sich Winter ganz besonders, weil sich zeigt, dass das generationenübergreifende Konzept des Hauses funktioniert. Jörg Oberwittler

Für den Preis „Netzwerk Nachbarschaft“ können sich bis zum 15. August erneut kinderfreundliche Treffpunkte, Kulturprojekte oder innovative Baugemeinschaften bewerben. Weitere Informationen gibt es im Internet unter www.netzwerk-nachbarschaft.de.

Jörg Oberwittler

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