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Berlin: Wolfgang Szepansky (Geb. 1910)

Was für ein Mordplatz diese Welt war! Und wie schön zugleich!

Beim Betrachten der alten Klassenfotos ist es schwierig, die Jungs voneinander zu unterscheiden. Es ist das Jahr 1917, alle tragen Matrosenkragen und kurz geschorenes Haar. Nur einer sticht heraus mit seinen schulterlangen, blonden Locken. Das ist Wolfgang Szepansky, jüngstes von drei Kindern und von seiner Mutter dringend verdächtigt, ein Engel zu sein.

Wie sich das für einen Engel gehört, passte Wolfgang nicht in diese Welt, die gerade wieder ein großes Schlachtfest ausrichtete, den Ersten Weltkrieg. Jeder „Frontsieg“ wurde in Wolfgangs Mariendorfer Schule mit Hassgesängen auf Franzosen und Russen belohnt. Nichts war so in Mode wie das Militär und niemand so unmodisch wie Wolfgang: Er trug dieses Mädchenhaar, war stark kurzsichtig, verträumt und vertrödelt. Die Buchstaben wollten dem Erstklässler nicht gelingen, jedenfalls nicht, solange Fräulein Weste, die immer den Rohrstock bei sich trug, ihm zuschaute. „Sie schlug mir auf die Finger, dass sie blau anschwollen. Ich wagte nicht, laut aufzuschreien, die Tränen liefen mir über die Wangen. Ich konnte den Federhalter nicht mehr halten und war nicht mehr aufnahmefähig. Von diesem Tag an beherrschte mich die Angst, etwas falsch zu machen“, schrieb er später in seinen Erinnerungen. Eine Angst, die jeden Tag wuchs, befeuert durch den Spott der Klassenkameraden und Sprüche wie dem des Lehrers Knitter: „Laufen, laufen, welch Vergnügen, wer nicht mitkommt, der bleibt liegen, nicht wahr, Szepansky?“

Mitlaufen, das war der Sport, den Knitter und seine Geistesverwandten ihr Leben lang übten, unter dem Kaiser, in der Weimarer Republik und schließlich unter den Nazis. Viele Jahrzehnte musste Wolfgang warten, bis er Lob und Anerkennung dafür bekam, in diesem Fach eine Niete gewesen zu sein.

Noch war er der kleine Junge, der gern dazugehören wollte zur Gemeinschaft der vermeintlichen Gewinner. Dass er den Mut nicht verlor, schrieb er später seinen Eltern zu, die ihm zwar wenig zu essen, dafür aber Liebe und eine Gegenwelt zur Schule bieten konnten: die Berliner Arbeiterbewegung. Während Wohlhabendere in ihren Kissen schlummerten, schrieb Wolfgangs Mutter, eine Stickerin, Gedichte und Theaterstücke, in denen die Schmalhänse über die Prahlhänse triumphierten. Schmalhänschen Wolfgang durfte darin mitspielen. Der Applaus, den der sonst so schüchterne Junge für seine Auftritte bekam, „erscheint mir noch heute wie Balsam auf eine blutende Wunde.“

Je älter er wurde, desto mehr begann Wolfgangs Angst vor dem Lehrer Knitter zu schwinden. Laufen, laufen, welch Vergnügen? Kommt auf das Ziel an. Es war mehr als Sohnestreue oder die Sehnsucht nach Applaus, die Wolfgang in die Agitprop-Gruppen des Deutschen Arbeitertheaterbundes trieb. Wenn er sich von Schrippen ernährte, die seine Mutter aus Kohlrüben gebacken hatte, mussten Fragen wie diese gestellt werden dürfen: Schacht, der Reichsbankpräsident, Direktor der Industrie, Mitglied in etlichen Aufsichtsräten, für seinen Massenbetrug erhält er jährlich: 300 000 Mark. Brolat, Direktor der BVG, verantwortlich für die Erhöhung der Fahrpreise, predigt den Arbeitern Maßhalten, erhält jährlich: 72 000 Mark. Und was hast du, Metallarbeiter? Was hast du, Jungarbeiter? Was hast du, Arbeitsloser?

Sie durften nicht gestellt werden, jedenfalls nicht lange. 1931 wurden die Agitprop-Gruppen verboten. Wolfgang aber wollte sich nicht mehr ducken. Was er in den Seminaren der kommunistischen Wochenschulen gehört hatte, leuchtete ihm ein. Mehr als alles, was Knitter und Weste je vorgetragen hatten.

Wie ernst es ihm war, bewies er 1933. „Nieder mit Hitler! KPD lebt!“ malte er auf die Wand einer Brauerei. Rot strahlten die Buchstaben durch die Nacht, Wolfgang hatte bei seinem Vater eine Lehre zum Dekorationsmaler absolviert. „Das war ein Fachmann“, fluchte die SA, die durch die Straßen patrouillierte, und hielt den jungen Mann, der da gerade auf seinem Fahrrad um die Ecke biegen wollte, fest: „Was bist du von Beruf? Maler?“ Er wurde ins Hauptquartier der Gestapo gebracht und mit 15 anderen an die Wand gestellt. „Ein Breitfressiger mit Affenarmen und klobigen Händen trat an den ersten Gefangenen heran, grinste und schlug ihn mit der Rechten zu Boden. Dann trieb er sein Opfer mit Fußtritten wieder hoch und schmetterte es mit der Linken nieder. So schlug er einen nach dem anderen nieder. Ich war der Vorletzte in der Reihe.“

Mit Wolfgang Szepansky ist es ein bisschen wie im Märchen: Der Schwächste entpuppt sich als der Stärkste. Alles hat er geleugnet, niemanden verraten. Doch als ihn Ende desselben Jahres ein Brief erreichte, in dem er wegen „Fortführung des Roten Frontkämpferbundes“ vorgeladen wurde, flüchtete er nach Holland.

Dort lebte er in wechselnden Quartieren, machte kommunistische Zeitungen versandfertig für den Schmuggel nach Deutschland und stellte sich eines Tages die alte Frage: ob er ein Schwächling sei.

Andere emigrierte Genossen meldeten sich zu den Interbrigaden nach Spanien. Obwohl er den Kampf befürwortete, stellte er fest: Sein Widerwille gegen den Gebrauch von Waffen war unüberwindbar. Was für ein Mordplatz diese Welt war! Und wie schön zugleich! Sie hatte ja auch Menschen zu bieten wie Jet, die Tochter eines jüdischen Ehepaares, das ihn bei sich wohnen ließ. Jet, die so gern klassischer Musik lauschte und mit der er 1938 einen Sohn bekam, Robert. Das Flüchtlingskomitee setzte kurz nach der Geburt seine Legalisierung durch.

Dennoch verkündete die holländische Polizei 1940, dass er „die Ehre eines holländischen Mädchens beschmutzt“ habe. Auf dem Weg in das Internierungslager „fuhren wir mit dem Zug durch tief verschneite Ebenen. Mir kamen die nach Sibirien verbannten Revolutionäre der Zarenzeit in den Sinn. Genauso kam ich mir vor. Wenn ich an Jet und Robert dachte, wurden mir die Augen nass. Ich wagte nicht aufzusehen.“

Sein Sibirien hieß Sachsenhausen. Dorthin wurde er nach dem Einmarsch der Nazis verfrachtet.

Wer nicht mitkommt, der bleibt liegen. Aus der Knitter-Moral war bitterer Ernst geworden, Wolfgang schuftete um sein Leben. Er testete Ersatzlederschuhe für die Wehrmacht, 560 Kilometer immer um den Appellplatz herum, er wurde vor Erntewagen gespannt, er lackierte Spielzeug für die Kinder der SS, führte die Toten-Kartei.

Möglicherweise war es ausgerechnet die Liebe zu Jet, die ihm das Leben rettete. Ohne Jet wäre er nicht wegen „Rassenschande“ zu zwei Jahren Zuchthaus in Tegel verurteilt worden. „Das Gefängnis bedeutete Isolation, aber auch Ruhe und verhältnismäßige Sicherheit.“

Als Wolfgang seine „Rassenschande“ 1943 abgesessen und zahlreiche Liebesgedichte an Jet verfasst hatte, musste er zurück nach Sachsenhausen. Viele seiner alten Freunde und Bekannten fehlten. Eines Tages, die Front war schon zu hören und das Morden der SS wurde immer enthemmter, ließ Wolfgang sich aus der Tischlerei ein Stück Holz zuschmuggeln und begann wie ein Besessener zu schnitzen. „Eine Art Lampenfieber hatte mich erfasst. Stück um Stück trat aus dem Klotz das Teufelsprofil heraus.“ Der Teufel starrte Wolfgang an, und Wolfgang starrte zurück. Wer war stärker?

Auch den Todesmarsch überlebte der verträumte, kurzsichtige Wolfgang, dem man so wenig zugetraut hatte. Nach dem Krieg arbeitete er als Zeichenlehrer und als Kulturhausleiter der Reichsbahn in West-Berlin. Jet heiratete den Mann, der mit ihr und dem Kind in den Untergrund gegangen war. Wolfgang fand eine neue, große Liebe, Gerda. Klug und verständnisvoll war sie, die zum Widerstand der Frauen im Nationalsozialismus forschte. Sie bekamen vier Kinder.

Die Freude darüber, dass die Gewinner von einst am Ende doch verloren, war ihm Zeit seines Lebens anzumerken. „Nie habe ich ihn bitter oder grüblerisch erlebt“, erzählt seine Tochter. „Er war gelassen, freundlich und genügsam.“ Nichts Schöneres gab es für ihn als das Leben selbst und nichts Wichtigeres, als vor den Todbringern zu warnen. Noch als über Neunzigjähriger saß er in Schulklassen, führte durch Sachsenhausen, „was mir zunächst nicht leicht fiel, tauchten an diesem Ort doch schreckliche Bilder in mir auf“. Wieder daheim bannte er diese Bilder in Zeichnungen und Drucken auf Papier.

„Ich und meine Klasse standen vor dem Tor von Sachsenhausen“, schrieb eine Schülerin. „Mir war eiskalt geworden. Herr Szepansky erzählte uns seinen Lebenslauf. Er musste ab und zu mal weinen. Aber wie er es geschafft hat, wusste er selbst noch nicht. Ich wundere mich immer noch.“ Anne Jelena Schulte

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