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Berlin: Yoriko Yamada-Bochinek hat drei Kontinente durchforscht und dabei endeckt: es gibt auch 2-3-2 statt 5-7-5 Silben

Ihre Entdeckung überraschte nicht nur Japan, sondern auch in der westlichen Welt. Zumindest in den Teilen, die sich für die japanische Dichtkunst interessieren.

Ihre Entdeckung überraschte nicht nur Japan, sondern auch in der westlichen Welt. Zumindest in den Teilen, die sich für die japanische Dichtkunst interessieren. Nicht das rein äußere Kriterium der Silbenzahl - wie bisher behauptet - sondern die Melodie der Sprache, die charakteristische Rhythmus- und Sinnpause nach zwei Klangeinheiten, machen das kleine Gedicht zu dem, was es sein soll: zu einem Haiku. Für Yoriko Yamada-Bochinek klingen deshalb deutsche Haikus nur dann nicht gestelzt, wenn sie dieses Klangbild treffend imitieren - zum Beispiel durch ein deutsches Versmaß (2-3-2 Hebungen statt 5-7-5 Silben).

Mit dieser Feststellung hat die Japanologin am Ostasiatischen Seminar der Freien Universität 1996 heftige Reaktionen ausgelöst. "Jetzt bin ich schon ganz allergisch gegen die 5-7-5-Krankheit und Japan-Stereotype wie Kirschblüten", sagt die Japanerin lachend. Sie ist eine der Juroren, die den gelungensten Haiku des Tagesspiegel-Wettbewerbs mit auswählt.

In einer Kleinstadt 120 Kilometer südlich von Tokio hatte sie unterrichtet, ehe drei Tage in Wien ihren Lebensweg völlig durcheinander brachten. "Die große Liebe", sagt sie mit einem Augenzwinkern, nicht ohne Rührung über das jugendliche Abenteuer. Der Deutsche, mit dem sie damals ein Stück weit durch Europa trampte, ging ihr nicht mehr aus dem Sinn. Sie ihm offenbar auch nicht. Nach einem Jahr heißen Briefwechsels zwischen Amerika und Deutschland zog er mit seiner neuen Freundin in Dortmund zusammen. Von dort aus hat die Japanerin durch ihre Forschungsarbeit eine Revolution in einem auserlesenen Zirkel angezettelt: im Kreis der deutschen Haiku-Dichter.

"Ich weiß nicht, wer den roten Faden hinter den Kulissen gezogen hat", sagt sie. Alle ihre Tätigkeitsbereiche, englische und japanische Sprachdidaktik, semiotische Forschung und Dichter-Workshops, haben sich inzwischen seltsam verknüpft - durch die japanische Miniaturdichtform Haiku. Bis es soweit war, musste Frau Yamada-Bochinek um den halben Globus ziehen.

Die Odyssee führte zu einer Weltreise, deren Stationen sich "aus lauter Zufällen" ergaben. Weil sie ihr Englisch für ihre Lehrtätigkeit ungenügend fand, wollte sie unbedingt in die USA reisen. Sie setzte sich allerdings in einen Flieger nach Venezuela - dort wollte sie bei Bekannten die nötigen sechstausend Dollar für den Sprachaufenthalt verdienen. Nach Venezuela ist sie jedoch nie gekommen. Im Flugzeug las sie in einem amerikanischen Studienführer und entdeckte eine Volkshochschule bei San Francisco, die Englisch-Unterricht ohne die Bürgschaft von sechstausend Dollar erteilte. Weil der Flieger praktischerweise in San Francisco zwischenlandete, packte sie die Gelegenheit beim Schopf, danach ihre Koffer und sprach spontan bei der Schule vor. Vier Jahre später hatte sie ihren Bachelor in Englischer Literatur in der Tasche.

Der Haiku fing sie in Deutschland wieder ein. Der Dreizeiler interessierte die Anglistik- und Japanologie-Studentin als semiotisch-linguistisches Phänomen. Was macht einen Haiku als Gedichtform aus? Und wie lassen sich seine Charakteristika ins englisch- und deutschsprachige Zeichensystem verpflanzen? Schließlich hat der Haiku auch im Westen spätestens seit den 60er Jahren literarische Tradition.

Amelie Kutter

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