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Diese Illustrationen aus dem Buch Thomas Henseler/Susanne Buddenberg: Das Haus, das in einem anderen Land stand.

© Thomas Henseler/Susanne Buddenberg

Berliner Stadtgeschichte: Als wir Nachbarn waren

Thomas Henseler und Susanne Buddenberg erzählen in der Graphic Novel „Das Haus, das in einem anderen Land stand“ bewegende Lebensgeschichten aus der Berliner Torstraße.

Von Thomas Greven

Die Inspiration für den Titel des Comics stammt vermutlich von einem Großgraffito in der nahen Brunnenstraße - aber auch das im Zentrum der fünf Episoden stehende Haus in der Torstraße 94 in Berlin-Mitte stand lange „in einem anderen Land“. Gemeint ist natürlich die DDR, deren Geschichte und Geschichten sich die Comic-Künstler Thomas Henseler und Susanne Buddenberg seit vielen Jahren widmen, auch diesmal gefördert von der Bundesstiftung zur Aufarbeitung der SED-Diktatur.

Auf der Basis einiger Lebensgeschichten, die Andreas Ulrich in seinem Buch „Torstraße 94“ gesammelt hat, bringen die Autoren das Haus als „stummen Beobachter“ seiner Bewohner zum Sprechen. Anders als in ihren „Grenzfall“ und „Tunnel 57“ stehen hier nicht Widerstand und Fluchtversuche im Vordergrund. Die DDR wird als ein Land gezeigt, in dem sich durchaus auch Träume erfüllen konnten, so wie der von Andreas Ulrich, Sportreporter zu werden.

Das Haus erzählt von sich und seinen Bewohnern

Ulrich, der selbst im Haus gewohnt hat, führt zunächst in die Topographie des Hauses und der elterlichen Wohnung ein. Als Kind durchquert er deren große Diele voller Angst auf dem Weg zur Toilette. Auch der Kohlenkeller ist ihm unheimlich.

Die DDR wird über viele Details zum Leben erweckt – da geht es um den Radiosender DT64 und die Disco im Palast der Republik, aber auch die Eile, mit der das schnell ausverkaufte „Magazin“ besorgt werden musste, in dem es auch ein paar Aktaufnahmen gab. Dessen Redaktion sitzt übrigens immer noch um die Ecke in der Friedrichsstraße.

Liebe voll geschilderte Details aus dem DDR-Alltag

Weitere Themen sind die Intershops, die große Bedeutung von West-Jeans für die Jugendlichen und die - heute absurd erscheinende - Tätigkeit von Ulrichs Vater beim „Amt für Preise“.

Wegweiser durch die Episoden ist das Hausbuch, in dem die Mieter verzeichnet sind. Die Einträge stellen die jeweiligen Protagonisten vor und markieren die Übergänge zwischen den Geschichten und Erzählzeiten.

Geradlinige Erzählung, Zeichnungen von großer Klarheit

Auch der aus dem Saarland in die DDR gekommene Peter Merten erfüllt sich in Berlin seinen Traum. Der erfolgreiche Sänger ist ein Frauenschwarm der 1960er Jahre. Doch als der junge Ulrich munkeln hört, Peter Merten sei „vom anderen Ufer“, imaginiert er, dass es wohl einen Fluss zwischen der DDR und der Bundesrepublik geben müsse.

Illustration aus dem Buch von Thomas Henseler/Susanne Buddenberg: Das Haus, das in einem anderen Land stand.

© Thomas Henseler/Susanne Buddenberg

Thomas Henseler und Susanne Buddenberg erzählen geradlinig, und auch die Zeichnungen und Seitenkompositionen sind von großer Klarheit. Leider sind die Figuren nicht immer ausreichend unterscheidbar, und so gilt es, besonders aufmerksam zu lesen.

Die Honigtopf-Agentin, die im Westen spioniert

Insbesondere die Geschichte der alleinerziehenden Journalistin Ruth Penser, die einen guten Filmstoff abgäbe, ist so spannend wie komplex. Nach und nach findet ihr Sohn heraus, dass seine Mutter unter anderem als Honigtopf-Agentin für die DDR im Westen tätig war und dort auch im Gefängnis gesessen hat. Als sie schließlich ausreist, bleibt er zurück. Die DDR sei sein Land, sagt er. Doch schließlich vergrätzt auch ihn der paranoide Staat.

An die Tausch- und Gefälligkeitswirtschaft der DDR erinnert die Geschichte der Bluhms – die Mutter fertigt zuhause Textilien an, der Sohn ist TV-Verkäufer, nur meist ohne Ware. Neben der DDR-Arbeitswelt wirft diese Episode auch einen bittersüßen Blick auf die Gentrifizierung der Nachwendezeit. Die Bluhms zahlen anfangs 90 Mark für ihre 140 Quadratmeter. Sie wohnen heute nicht mehr dort.

Eine Episode fällt aus dem Rahmen – inhaltlich wie stilistisch – und erinnert daran, dass das Haus in der Torstraße auch Zeuge der großen Tragödie vor Gründung der DDR war. Wie einen Stummfilm, ohne Dialoge, nur mit Zwischentiteln, erzählen Henseler und Buddenberg eine bewegende Geschichte aus der Nazi-Zeit: die von Alice Lindemann, deren nicht-jüdischer Mann sie betrügt und zwingt, das Kind der verstorbenen Geliebten anzunehmen. Schlussendlich verstößt er sie sogar, obwohl sie sich taufen lässt. An Alice Lindemann erinnert heute ein Stolperstein vor dem Haus.

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