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Fein machen. Für korrekt gemähten Rasen machen US-Amerikaner viel – hier eine Frau in Kalifornien.

© Deirdre Brennan/Redux/laif

Amerikanische Traditionen: Gänseblümchen sind verdächtig

Er ist das Statussymbol der amerikanischen Mittelklasse: der akkurate Rasen vor dem Haus. Von der Unkraut-Paranoia zur Wasserverschwendung – eine kleine Kulturgeschichte.

Alles in Ordnung? Die Nachbarin war sehr besorgt. Colin Polsky, Geografieprofessor an der Clark-Universität im neuenglischen Worcester, hatte das Gras in seinem Vorgarten einfach mal wachsen lassen. Eine Sommerwiese. Keinen Monat, da klopfte auch schon die Nachbarin an. Ob er im Krankenhaus gewesen sei?

Der perfekt manikürte „front lawn“, der Vorgartenrasen, der ohne Zaun und privatisierende Abgrenzungen als uni-grünes Rasenhandtuch vor amerikanischen Einfamilienhäusern liegt, ist für viele noch immer unverzichtbares Ideal. So selbstverständlich hat sich diese gärtnerische Eigenart in der dortigen Mentalität eingenistet, als könnten Eigenheimbesitzer, die sich der grünen Perfektion verweigern, nur schlechte Staatsbürger sein.

Die ausgeprägte Rasenkultur der Vereinigten Staaten, die plakativ für homogenes Vorortleben steht, die berüchtigt aseptisch gespenstische Welt, wie man sie aus dem Film „American Beauty“ kennt, ist eine Institution, so amerikanisch wie Apple Pie. Zum eigenen Haus gehört der „front lawn“ wie das Barbecue zum Unabhängigkeitstag am 4. Juli. Er ist ästhetische und vor allem soziale Übereinkunft der Mittelschicht. Bis in die Grasspitzen mit nationalen Werten aufgeladen. Und doch höchst private Angelegenheit. „Du hast meinen Vorgartenrasen gemäht?“, grunzt in der neuen US-Kultserie „True Detective“ der Polizist seinen Kollegen an, als wäre der gerade mit seiner Ehefrau ins Bett gestiegen.

Als „Konsens stiftendes Ritual“ bezeichnete der Publizist Michael Pollan die permanente Rasenpflege, das sich die Nation über 40 Milliarden Dollar im Jahr kosten lässt – und das der Autor schon in den 1980er Jahren als Propaganda kritisierte. Das Land bilde sich ein, so Pollan, es beim Vorgartenrasen mit einer demokratischen Institution zu tun haben. Deswegen werde er auch so gut wie nie mit Blumenbeeten, Obstbäumen, Gartenzwergen und Springbrunnen aufgehübscht. Das schlichte Rasengrün werde als „Weg zur Gemeinschaft“ verstanden, nicht als Arena des Selbstausdrucks.

An erklärenden Theorien für diesen konformistischen „American Way of Life“ hat es jedenfalls nie gefehlt. Als lebe auf dem leeren Vorgarten der alte Präriemythos weiter, als wäre der weite Blick über die freien Rasenflächen – beliebteste Sorte: „Kentucky Bluegrass“ – immer auch Wild-West, spekuliert in Boston ein Park-Ranger: „So ein offener Rasen beschützt ja auch. Keiner kann sich hinter einem Baum verstecken und dich kriegen.“

Schon in den 1930er Jahren versuchten manche dem Gebot des sogenannten „lawn upkeep“, also die eigenen Vorgartengrashalme auf Vordermann zu bringen, mit grüner Anstrichfarbe zu entkommen. Obsessive Ausmaße nahm das Ganze in den 1950er Jahren an, als jedes Gänseblümchen plötzlich das Zeug zum verdächtigen Kommunisten hatte, eine geradezu pathologische Unkraut-Paranoia um sich griff. Noch heute staunt man, mit welcher Ernsthaftigkeit die Werbung für hochgiftige Herbizide kurz mal einen Löwenzahn zur Strecke bringt.

In der verklemmten Fantasiewelt des Picobellorasens sollte damals volkspädogisch die bessere Gesellschaft gedeihen. Nicht so sehr der neidvolle Blick zum Nachbarn, wo das „Gras immer grüner ist“, war Antrieb zur Rasenpflege, sondern das noch heute wirksam gesellschaftlich verpflichtende Paket des „American Dream“: Je perfekter der Rasen, desto erfolgreicher sein Besitzer, desto größer das Familienglück und desto verantwortungsvoller der Bewohner.

Thomas Jefferson ist schuld

Dabei hat Rasen eigentlich gar nichts in den Staaten zu suchen. Er ist eingewandert wie die Kolonialisten. Die ersten Samen brachte angeblich noch Gründervater Thomas Jefferson mit in die Neue Welt. Bis Mitte des 19. Jahrhunderts blieb Rasen Privileg und Statussymbol der Oberschicht. Je grüner, desto schöner, umso reicher.

Erst nach dem Bürgerkrieg ging es für alle los. Vorbild war England, wo die Erfindung des Rasenmähers bereits 1830 das getrimmte Reihenhaus-Grün emöglicht hatte. Amerikas großer Landschaftsgartenarchitekt des 19. Jahrhunderts, Frederick Law Olmsted, würde sich zwar beim Anblick von Suburbias Monokulturen im Grab umdrehen. Dabei beruht sie in gewisser Weise auch auf der von ihm geprägten Kulturlandschaft.

In Chicago hatte Olmsted, der Erschaffer des Central Park in New York, 1868 mit „Riverside“ die erste genuin amerikanisch angelegte Vorortsiedlung entworfen. Ohne Zaun und Abgrenzungen standen hier die Häuser in einer parkähnlichen Landschaft, die die Bewohner „genießen und umso mehr genießen sollten, weil sie gemeinschaftlich war“. Die Idee des Grüns für alle, das jedem demokratische Teilhabe gewährt, steckt bis heute im „front lawn“. Von Olmsted stammt auch die Idee der zurückversetzten Häuser. In Riverside hatte jedes Grundstück neun Meter von der Straße entfernt zu liegen, was den Raum für einen Vorgarten erst definiert hat. Und bis heute als verbindlich in Einfamilienhausgegenden gilt, ob in Texas, New Jersey oder Montana.

Teletubbie-Landschaft gerät nun in Verruf

Aus dem Ideal einer romantisch idealisierten Vorortlandschaft ist allerdings wenig geworden. Für die zentralen Verfechter des frühen Vorgartens – Agrarministerium, Rasenpflegeindustrie, Garten- und Golf-Clubs – steckte im Einheitsgras immer auch ein Ordnungsschema, zivilisatorische Instrumentalisierung: weg von Wildnis und Nutzgärten, hin zu einer modernen, wie man meinte, demokratisch gestalteten Gesellschaft. Das Kunststück, bei aller klimatischen Unterschiedlichkeit des riesigen Landes, es zu einer homogenen Nation gebracht zu haben, galt als Errungenschaft. Allzeit kurz geschnittener Rasen wurde als vereinendes Fortschrittsprodukt gefeiert: Symbol dafür, dass in den USA quasi alles möglich ist, selbst samtweich perfektes Rasengrün im feuchtwarmen Klima Louisianas oder in der Wüste Nevadas. So richtig in Fahrt geriet die konsumistische Rasennarretei dann mit der explodierenden Häusernachfrage der boomenden Nachkriegsjahre.

Auf einem Kartoffelacker auf Long Island zog der legendäre Fertighauspionier Abraham Levitt 1947 seine ersten 7000 Eigenheime hoch – eins wie das andere und alle auf endlos offener Rasenfläche abgesetzt, ohne Bäume, Sträucher, Zäune. Olmsteds zaunloses Grün für alle sozusagen kapitalistisch pervertiert zur künstlichen „Teletubbie“-Landschaft. So wie sich in Levittown damals jeder Grundstückbesitzer zum regelmäßigen Mähen verpflichten musste, wird das heute in Hausbesitzervereinen getan, von denen es in den Staaten mittlerweile mehr als 300 000 geben soll.

Einiges hat sich mittlerweile aber doch geändert. Das gepflegte grüne Ideal gerät zunehmend als teuer bezahlter Anachronismus in Verruf, als „giftiges Gebräu“, wie es die Gründerin des „Great Healthy Yard Project“, Diane Lewis, nennt. Im Vorgarten werden zehnmal so viel Pestizide und Kunstdünger wie für vergleichbare Farmlandflächen eingesetzt, das Bewässern des Rasens verbraucht unglaubliche 30 bis 60 Prozent des gesamten städtischen Wassers. In einigen Bundesstaaten ist die verschwenderische Vorgartenkultur auch schon an ihre Grenzen gestoßen. In Las Vegas und Los Angeles wird Hausbesitzern eine Prämie gezahlt, wenn sie auf ihre Rasenteppiche verzichten und sich mit einer weniger durstigen Bepflanzung zufriedengeben.

Mal wieder an Kartoffeln denken

Als Stellvertreter für gleichmacherisches Spießertum und ökologischen Irrsinn ist der „front lawn“ Teil eines Kulturkampfs geworden, Symbol für ein verqueres Naturverständnis. Buchtitel wie „Attack on the Front Lawn“ oder „Requiem for a Lawnmower“ (Requiem für einen Rasenmäher) sprechen Bände. Vor allem die Bewegung für urbanes Gärtnern und Ackern und regionale Lebensmittelversorgung zielt auf das Vorzeigegrün ab. Statt sich an „Kentucky Bluegrass“ sattzusehen, sollen lieber wieder Karotten und Kartoffeln wachsen und das agrarische Denken der Gründerväter zurückkehren, finden die Verfechter der Bewegung.

Geografieprofessor Colin Polsky traut seinen Landsleuten durchaus zu, die geheiligte Garten-Kultur zu stürzen: „Wer weiß, wie es in fünf Jahren aussieht?“ Hartgesottene Enthusiasten lässt die ökologische Unausweichlichkeit schon um die Zukunft ihrer Kinder bangen. Als könnten ohne dieses Symbol keine echten Amerikaner heranwachsen. „Front lawn“ ist in der Tat mehr als Garten – ein weites Feld.

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