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Marxismus: Die Warnung

GEORG FÜLBERTH Die Erkenntnisse großer Wissenschaftler gehen zuweilen so gründlich in unseren Gedankenhaushalt ein, dass wir uns gar nicht mehr erinnern, wo sie herkommen. Am Beispiel Karl Marx:Die meisten modernen Menschen gehen davon aus, dass das gesellschaftliche Sein das Bewusstsein bestimmt.

GEORG FÜLBERTH

Die Erkenntnisse großer Wissenschaftler gehen zuweilen so gründlich in unseren Gedankenhaushalt ein, dass wir uns gar nicht mehr erinnern, wo sie herkommen.

Am Beispiel Karl Marx:

Die meisten modernen Menschen gehen davon aus, dass das gesellschaftliche Sein das Bewusstsein bestimmt. Vor 150 Jahre musste erst eine neue Theorie – der Historische Materialismus – in die Welt gesetzt werden, um das herauszubekommen.

Kaum einmal hört man noch, dass die Geschichte (und Gegenwart) eine Geschichte von Klassenkämpfen sei. Stattdessen wird von Verteilungskämpfen geredet. Es ist dasselbe, allerdings ohne Marx’ revolutionäre Pointe.

Alle wissen heute, was Globalisierung ist. Marx und Engels beschrieben sie schon 1848 – im „Manifest der Kommunistischen Partei“ –, ohne das Wort zu benutzen.

Die Theorie vom Mehrwert lässt sich nicht mathematisch widerspruchsfrei beweisen. Aber ihre scharfsinnigsten Kritiker haben ihr nicht vorgehalten, dass sie falsch, sondern dass sie „redundant“ sei. Soll heißen: Dass Gewinn nur dort gemacht werden kann, wo Arbeitskraft ausgebeutet wird, sei ohnehin klar.

Sehr aktuell erscheint das „Allgemeine Gesetz der kapitalistischen Akkumulation“ aus dem „Kapital“: Zunehmender Einsatz von Maschinerie lässt die Arbeitslosigkeit steigen. Aber Marx wies auch darauf hin, dass es „durch mannigfache Umstände modifiziert“ werde. Tatsächlich haben technische Innovationen seit der industriellen Revolution nicht durchgehend zu steigender Arbeitslosigkeit geführt. Wenn dies neuerdings anders ist, muss vermutet werden, dass die herrschenden Gedanken, die die Gedanken der herrschenden Klassen sind (auch so eine Entdeckung von Marx), aktuell nicht darauf gerichtet werden, solche Modifikationen zu finden.

Im dritten Band des „Kapitals“ schreibt Marx vom „tendenziellen Fall der Profitrate“. Ursache ist auch hier wieder der steigende Technologieeinsatz. Dieser lasse langfristig die Rendite sinken. Aber Marx benannte zugleich „entgegenwirkende Ursachen“. Deren Durchsetzung mitsamt negativen Folgen (Niedriglöhne, Zerstörung natürlicher Ressourcen, Massenarbeitslosigkeit, Vorrang des Weltmarkts vor der Binnennachfrage, Zunahme der Spekulation im Verhältnis zur Produktion) erleben wir jetzt.

Im „Kapital“ wird analysiert, wie der Kapitalismus funktioniert, aber es zeigt auch, woran er zugrunde gehen kann. Dies war eine heilsame Warnung für die Kapitalisten. Wenn es im 20. Jahrhundert soziale Fortschritte gegeben hat, so beruhen sie in hohem Maße auf den Anstrengungen des Bürgertums, Marx durch Reformen zu widerlegen und dadurch Revolutionen zu vermeiden. Wo die Furcht vor seinen Drohungen aufhört, beginnt der Rückschritt.

Georg Fülberth, 68, lehrte bis 2004 Politikwissenschaften in Marburg, ist Mitglied der DKP. Er arbeitet an der Marx-Engels-Gesamtausgabe mit, im April erscheint von ihm „Doch wenn die Dinge sich ändern. Die Linke“ (Papyrossa).

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