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Den Nachrichten nicht vertraut: Umweg über Prag

Im Herbst 1989 hatte sich Tagesspiegel-Leser Stefan Unger vorgenommen, die DDR zu verlassen. Er bereitete heimlich seine Ausreise vor. Als er am Abend des 9. November hörte, dass man nach West-Berlin könne, hielt er dies für einen Trick. Und machte sich auf den Weg nach Prag.

1989 war ich als Abteilungsleiter für Medizinische Informatik am Krankenhaus Berlin - Kaulsdorf beschäftigt. Eine meiner gesellschaftlichen Aktivitäten neben meinem Beruf war die Teilnahme an der informellen Überwachung der letzten Kommunalwahlen der DDR im Frühjahr 1989 durch interessierte Kreise. Mein Kontakt zu diesen Kreisen bestand über die Szene der Berliner Jugendklubs, in denen ich ehrenamtlich tätig war. Für mich ein einschneidendes Erlebnis, denn am Abend nach der Wahl haben wir kräftig gefeiert, weil wir wussten,  dass nach ca. 10 Prozent Nein-Stimmen die DDR nie wieder so sein könnte, wie sie war.

Auf dem Weg zur Arbeit habe ich mich dann über das offizielle Wahlergebnis "gefreut" und meinem zuständigen Chefarzt meine Meinung dazu mitgeteilt, nämlich dass die Partei der Arbeiterklasse ihren Führungsanspruch durch diese Wahlfälschung für immer verspielt hätte.  Mein Vorgesetzter verzichtete auf Gegenargumente. In den folgenden  Monaten wurde es immer unruhiger in Berlin, durch den Ausreisedruck über Ungarn und Prag entstanden spontane Diskussionsgruppen auf dem Alexanderplatz, offenbar zu einem hohen Prozentsatz von Sicherheitskräften frequentiert. Ich bekam Angst vor bürgerkriegsähnlichen Zuständen, in denen ich mich auf Grund meiner Haltung (ich bin eigentlich immer lieber "dagegen") in einem der vorbereiteten Lager gesehen hätte.

Deshalb begann ich, meine Ausreise vorzubereiten. Dabei wollte ich keinen Fehler machen, denn zu dieser Zeit war ich wegen illegaler Einfuhr von und Handel mit westlicher Computertechnik vorbestraft und nur unter Bewährung, weil das Kollektiv der Parteileitung des Krankenhauses für mich bürgte. Ich buchte über das DDR-Reisebüro eine Zugreise nach Leningrad, um dann in Warschau auf die BRD-Botschaft zu gehen. Das schien mir relativ unverdächtig und geeigneter als der Weg über Prag, da die Grenze zwischenzeitlich geschlossen worden war. Kurz vor dem 9. November wurde die CSSR-Grenze wieder geöffnet und ich beschloss, eben an jenem 9. November um Mitternacht mit dem Zug nach Prag zu fahren. Gegen 22 Uhr hörte ich im Radio - ich wohnte seinerzeit in der Bernauer Straße - , dass man jetzt nach Westberlin könne, man müsse nur den Personalausweis vorzeigen. Ich schlussfolgerte, dass das nur ein Trick sein könne und der befürchtete Bürgerkrieg unmittelbar bevor stand. Ich fuhr mit dem Taxi zum Bahnhof und war am nächsten Morgen vor der BRD-Botschaft in Prag. Mit 17 anderen Nachzüglern reiste ich mit dem letzten Sonderzug nach Marktredwitz, um erst ein Jahr später  nach Berlin zurückzukehren.

Stefan Unger

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