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Das Hotel Estrek an der Sonnenallee hat über 2000 Betten.

© Thilo Rückeis

Hotelkolumne: In fremden Federn: Größenwahn in Neukölln

Berlin ist Weltstadt. Im Estrel in Neukölln, dem größten Hotel Deutschlands, trifft unser Autor auf Star-Doppelgänger und muss fast mitklatschen.

Von David Ensikat

Der Berliner weiß das längst bzw. es ist ihm egal: Er lebt in einer Weltstadt. Dauerbaustellen, Mieten, betonierte Fläche, alles Weltniveau. Und mit der Ringbahn kommt er, wenn er es nur will, direkt nach Las Vegas. In Las Vegas gibt es die größten Hotels, die größten Stars und ringsum Wüste.

Berlins Las Vegas heißt „Estrel“. Es ist das größte Hotel des Landes mit 2250 Betten und Doppelgängershow „Stars in Concert“, mitten im südlichen Neukölln zwischen Pumpen Lehmann, dem Wilhelm-Reuss Lebensmittelwerk, und der Alba Metall Nord GmbH.

Fünfmal die Woche „Stars in Concert“, das ist die Show, für die die Plakate schon immer und überall werben, eine Art Michael Jackson drauf, eine Art Elvis, eine Art Amy Winehouse, lauter topfitte Wiedergänger von Musikanten, die ihr ungesund-reales Leben längst ausgehaucht haben.

Man sitzt dann in der Show und freut sich, zum einen, weil die Wiedergänger so gut live singen, wie das die Vorbilder mutmaßlich niemals konnten, und weil sich zum anderen diese Situation auftut, die man, so nimmt man sich das vor, anschließend kulturkritisch ausdeuten wird: Der Doppelgänger in einem Alter, in dem das Vorbild längst dem Tod geweiht war, interpretiert einen frühen Hit des Vorbilds (nein, er interpretiert nicht, er singt nach), während das Vorbild auf der Videoleinwand zu sehen ist, in jungen Jahren, und synchron den Hit – mitsingt? Das nun nicht. Das Vorbild hat für die Filmaufnahme damals  nur die Lippen bewegt und gar nicht echt gesungen. Echt singt hier der Unechte, alt ist neu und neu ist alt.

Wüst hier!

Während man sich das zusammenreimt, erreicht die Show einen Höhepunkt, das Publikum ist, weil es das wollte und weil es das sollte, von den Sitzen aufgesprungen und klatscht rhythmisch mit, der dicke Bluesbrother rennt zwischen den Tischen umher und fordert jeden, der noch sitzt, auf, aufzuspringen, und das ist nun wirklich eine blöde Situation für den Kulturkritiker, dafür ist er nicht hierhergekommen, bevor der dicke Bluesbrother ihn erreicht, springt er ganz von alleine auf, verlässt die Show, bezieht sein Zimmer, blickt aus dem zwölften Stock auf Südneukölln, denkt: Wüst hier!, schaltet den drehbar gelagerten Fernseher ein, der zeigt einen Estrel-Werbefilm, mit Impressionen aus der Doppelgängershow, also wieder aus, dann verbindet er das Handy mit dem Estrel-WLAN und liest bei Wikipedia, dass das Hotel „Estrel“ heißt nach seinem Chef Ekkehard Streletzki. Er lässt ein Vollbad ein, vermisst den Badezusatz, also ohne Schaum, was schade ist, weil Schaum hier passen würde, badet kurz und geht zu Bett mit dem eigentlich gar nicht so kulturkritischen Gedanken, dass es ihm egal ist, ob Berlin nun Weltstadt ist oder nicht. Er ist ein Berliner. Er findet es hier gut.

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