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Das Team von Makkabi Deutschland.

© Rafael Herlich

Jüdisch sein in Deutschland: Wir lassen uns nicht vertreiben

Jüdisches Leben in Deutschland ist widersprüchlich. Makkabi-Fußballer werden antisemitisch beleidigt und singen dennoch laut die Nationalhymne.

Philipp Peyman Engel (36) ist Redakteur der Wochenzeitung „Jüdische Allgemeine“. Dort ist er zuständig für das Feuilleton und die Online-Ausgabe.

Kurz nach dem Anschlag auf die Jüdische Gemeinde Halle, kurz nachdem der Rechtsextremist Stephan B. versucht hatte, an Jom Kippur in die Synagoge einzudringen, um möglichst viele Juden zu ermorden, rief mein Cousin aus New York an. Er war besorgt. Wieder einmal. „Deutschland ist nicht mehr sicher“, sagte er. „Wann zieht ihr endlich zu uns?“

Die Eltern meines Cousins sind persische Juden. Nach der islamischen Revolution 1979 flüchteten sie aus dem Iran in die USA. Die Mullahs hatten damals gerade den Schah gestürzt und die Macht übernommen. Tausende Iraner zogen durch die Straßen von Teheran, feierten Ayatollah Chomeini und skandierten „Tod Israel! Tod den USA!“. Für persische Juden war ihre Heimat kein sicherer Ort mehr.

Bis heute kann der amerikanische Cousin nicht verstehen, warum meine Großeltern damals nicht ebenfalls in die Vereinigten Staaten ausgewandert sind, sondern nach Deutschland. Ausgerechnet Deutschland!

Als mich der Tagesspiegel um einen Text über jüdisches Leben in Deutschland bat, musste ich an die Anrufe meines Cousins denken. Es ist nicht leicht, anderen begreiflich zu machen, wie es ist, als Jude in Deutschland zu leben. Was auch immer man antwortet, das Bild bleibt oft unvollständig. Die Antworten fühlen sich stets unzureichend an.

Phillipp Peyman Engel, Redakteur der "Jüdischen Allgemeinen".
Phillipp Peyman Engel, Redakteur der "Jüdischen Allgemeinen".

© privat

Fest steht: In Deutschland ist etwas ins Rutschen geraten – und zwar nicht erst seit Halle. Der Kampf gegen den Antisemitismus droht zu scheitern. Juden werden in Deutschland täglich angegriffen, weil sie äußerlich als Juden erkennbar sind.

Immer mehr jüdische Gemeinden raten ihren Mitgliedern vom Tragen der Kippa in der Öffentlichkeit ab. Deutsche Makkabi-Fußballer werden von ihren Gegnern jedes Wochenende antisemitisch beleidigt oder angegriffen. In Städten wie Chemnitz oder Jena gibt es für äußerlich erkennbare Juden ebenso No-Go-Areas wie im migrantisch geprägten Berlin oder im Ruhrgebiet.

Juden verlieren Vertrauen in Politik und Justiz

Zugleich verlieren immer mehr Juden das Vertrauen in Politik und Justiz. In der leider nur allzu gut eingeübten Choreografie nach Angriffen auf Juden beschwört erstere immer wieder „Nie wieder!“, ohne daraus Konsequenzen zu ziehen, während letztere antisemitische Straftaten nicht angemessenen sanktioniert und jüdisches Leben nicht ausreichend schützt.

Attacken auf Synagogen werden von der Justiz als „Israelkritik“ gewertet. Jährlich marschieren überwiegend türkisch- und arabischstämmige Migranten zum Al-Quds-Tag auf deutschen Straßen und rufen zur Vernichtung des jüdischen Staates auf – ohne Konsequenzen.

Währenddessen sucht die AfD fast schon pathologisch die Nähe zur jüdischen Gemeinschaft – auch um davon abzulenken, dass sie vom Ortsverband über die Landesparlamente bis hin zum Bundestag mit Rechtsradikalen gespickt ist. Doch auch hier: Diese Beschreibung der Realität ist zwar korrekt – und trotzdem fühlt sie sich unzureichend an. Unvollständig. Denn parallel zur permanenten Bedrohung gibt es auch ein jüdisches Leben, das vielen unbekannt ist.

Das jüdische deutsche Leben, das niemand sieht

Jüdisches Leben in Deutschland bedeutet auch, dass mehr als 400 jüdische Sportler bei den jüdischen Europameisterschaften zur Eröffnung in der Berliner Waldbühne lauthals die deutsche Nationalhymne singen. Jüdisches Leben in Deutschland bedeutet auch, dass sich jedes Jahr bei der Jewrovision mehr als 1000 jüdische Jugendliche zu einem Gesangswettbewerb treffen, um sich, das Leben, die Musik und ihr Judentum zu feiern.

Jüdisches Leben in Deutschland bedeutet auch, dass sich Woche für Woche in mehr als 100 Jüdischen Gemeinden Juden treffen, um zu beten, den Schabbat zu halten und das Judentum mit Leben zu füllen. Jüdisches Leben in Deutschland bedeutet auch, dass sich meine Mannschaft Makkabi-Berlin jede Woche mit anderen Mannschaften misst, auf dem Platz wie die Kesselflicker streitet, gelegentlich auch mal 16:0 verliert und trotzdem ein Makkabäer-Gemeinschaftsgefühl hat, das ich so in anderen Mannschaften nicht erlebt habe.

Ist das jüdische Leben oder die Bedrohung stärker?

Was also soll ich meinem Cousin in New York auf die Frage antworten, warum wir in Deutschland leben und dem Land nicht endlich den Rücken kehren? Dass schon allein die Frage falsch gestellt ist. Warum sollten wir unser Land, unsere Heimat, verlassen? Werden Finnen nach einem Anschlag auf ihr Land auch gefragt, wann sie auswandern werden?

Auch das bedeutet es, in Deutschland jüdisch zu sein: kämpferisch zu sein, selbstbewusst, wehrhaft. Wir werden unser Leben hier natürlich nicht einfach aufgeben. Wir werden uns selbstverständlich nicht durch Neonazis, Faschisten wie Björn Höcke oder Islamisten vertreiben lassen. Deutschland ist unser Zuhause.

Es bleibt die Frage, welche Entwicklung künftig stärker sein wird: die Bedrohung jüdischen Lebens oder das jüdische Leben selbst?

Die ehrliche Antwort ist: beides ist möglich. Das Wiederaufblühen jüdischen Lebens in Deutschland ist nicht weniger als ein Wunder, heißt es oft. Doch mit immer wohlfeilen Worten wie „Nie Wieder“ oder „Wehret den Anfängen“ ist es nicht getan. Die Bundesrepublik Deutschland muss nun beweisen, dass sie dieses Wunder wirklich verdient hat.

Philipp Peyman Engel

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