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Elena Senft schaltet nie ab: „Hallo???“

Neulich klingelte mein Handy um 8.15 h sechs Mal hintereinander. Ich hatte alle Anrufe verpasst.

Für mich war klar, dass Mutter Suizid begangen hatte und die angezeigte Nummer die Nummer des Krankenhauses war, das sehr dringend eine Blutspende von mir benötigte, um Mutters am seidenen Faden hängendes Leben zu retten. Nun war es natürlich zu spät. Nur weil ich das Handy über Nacht für gewöhnlich auf Lautlos stelle.

Das tue ich seit Jahren aus folgendem Grund: Als ich die Berliner Nummer zurückrief, hob eine sich offensichtlich mitten im Frühstück befindende stark berlinernde Hausverwaltungsangestellte ab und hatte eine wirklich sehr unwichtige Frage bezüglich meiner Kündigung des Objekts in der Lenaustraße.

Doch, durchaus. Es gibt Gründe, jemanden zehn Mal hintereinander anzurufen: schlimme Unfälle. Trennungsgespräche, bei denen man plötzlich doch zurückrudern will. Zweifelsfrei zu erwartende Flugzeugabstürze. Oder wenn man sich nackt aus der Wohnung ausgesperrt hat, der Schlüssel beim Nachbarn liegt und im Treppenhaus der Putztrupp naht. Katastrophen also, die keinen Aufschub zulassen. Jeder Anruf ein Stoßgebet.

Kein Wunder also, dass man gelegentlich nach dem Kinobesuch beim Blick aufs Handy-Display fast in Ohnmacht fällt, weil zehn Anrufe in Abwesenheit nur das Allerschlimmste bedeuten können. Ruft man panisch zurück, kaut die betreffende Freundin gerade Kekse, lümmelt auf der Couch und sagt: „Wollte mal wieder quatschen, aber du hattest gerade keinen Empfang.“

Menschen, die zehn Mal hintereinander anrufen, muss gesagt sein: Das Klingeln wird nicht lauter, je öfter man anruft.

Und nur, weil sie selbst gelangweilt auf die U-Bahn warten und Lust haben zu telefonieren, ändert es nichts daran, dass die Person am anderen Ende der Leitung gerade keinen Empfang hat, an der Supermarktkasse bezahlt, einen Koffer in den letzten Minuten vor Abflug über den Flughafen zerrt oder Geschlechtsverkehr hat.

Das altkluge Motto „Wer einmal lügt, dem glaubt man nicht“ lässt sich auf Telefonverhalten problemlos anwenden. Wer letzte Woche 15-mal angerufen hat, um zu fragen, ob man mal das Käsekuchenrezept rüberreichen könnte, das man eventuell irgendwann auszuprobieren gedenke, dem wird man beim nächsten Dauerklingeln auch einen banalen Grund unterstellen , obwohl der Anrufer seit einer halben Stunde frierend bei strömendem Regen vor der Tür steht und die Klingel ausgefallen ist.

Ein landläufiger Irrglaube ist außerdem der, dass Handyempfang besser wird, wenn man es nur ganz doll will. Es ist verständlich, dass die beste Freundin sofort und detailliert vom ersten Date am gestrigen Abend erzählen möchte. Es ist mittlerweile Konsens, dass es vom anderen zu viel verlangt ist, im Supermarkt im Untergeschoss sofort alle Zutaten für das dreigängige Abendessen zurückzulegen und sich unverzüglich unter einen Sendemast zu begeben.

Stattdessen wendet die Freundin die perfideste aller Zermürbungstaktiken an und zwingt einen zu der anstrengendsten Art aller Telefonate noch weit vor dem Störungsdienst von Mobilfunk-Hotlines: dem Gespräch, in dem zwei Telefonpartner sich minutenlang abfragen und rückversichern, ob und dass sie sich jetzt gerade gut verstehen, im nächsten Moment aber „etwas abgehackt“ hören „und jetzt gar nichts mehr. Hallo???“, „Ich leg jetzt auf und versuch’s noch mal!“, „Ach nee, warte, jetzt geht’s wieder!“.

Auch hier muss man einen Fehlglauben richtigstellen: Es wird nicht alles besser, wenn man einfach lauter spricht.

An dieser Stelle wechseln sich ab: Elena Senft, Moritz Rinke, Esther Kogelboom und Jens Mühling.

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