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Deutschland, ein "Normaloland": Alles so provinziell hier. Alles?

Die ZDF-Satire „Normaloland“ gaukelt vor, was in deutschen Neustädten so an Absurditäten vor sich geht.

Es gibt rund drei Dutzend deutsche Neustadts. Das „an der Bolz“ befindet sich offiziell zwar nicht darunter. Doch wer im ZDF oder in seiner Mediathek „Normaloland“ anschaut, der betritt darin praktisch alle Ortschaften Deutschlands zugleich – ob alt oder neu, klein oder groß, Ost oder West, Süd oder Nord. Schließlich ist „Normaloland“ bundesbürgerlicher Durchschnitt, eine Art fiktionales Haßloch fürs Fernsehen, das Marktforscher jahrzehntelang zum Testfeld des hiesigen Mittelmaßes erklärt hatten. Alles so alltäglich hier. Alles so alltäglich?

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Von wegen! Die Mockumentary, wie Spielfilmformate im Stil beobachtender Dokumentationen genannt werden, müsste eigentlich „Anormaloland“ heißen – so außergewöhnlich wirkt das Gezeigte. Und so authentisch. Vorerst fünf viertelstündige Reisen ins provinzielle Fantasiestädtchen Neustadt a. d. Bolz unternimmt ein Kollektiv um Regisseur, Headautor und Darsteller Matthias Thönnissen. Jede davon lotet Sitten und Gebräuche aus, die zu absurd erscheinen, um wahr zu sein. Doch schon der Auftakt zeigt, wie nah sich bürgerliche Realität und ihre Fiktion hierzulande oft kommen.

[ „Normaloland“, ZDF, Montag, 0 Uhr, und in der ZDF-Mediathek]

Im Speckgürtel nämlich, wo Einfamilienhäuser bereits an Bauernhöfe grenzen, behandelt der lokale Tierarzt eine Art der Gattung Homo, die sich gerade massiv im Biotop endemischer Säugetiere ausbreitet: Querdenker. Herr Schneider zum Beispiel hat sich (versehentlich) gegen Covid impfen lassen und fürchtet wie die halbe Nachbarschaft, von Bill Gates gechipt worden zu sein.

Gut, dass Viehdoktor Grobel Abhilfe weiß. „Was ist das größte Gerät?“, fragt er vorm Einsatz in die Kamera. „Was macht den meisten Eindruck?“ Seine Antwort: ein handelsüblicher Kompressor, mit dem er das Implantat zu pulverisieren vorgibt und dafür stolze 1650 Euro kassiert.

Menschen von Urangst befreien

Ein schlechtes Gewissen plagt ihn dabei nicht, im Gegenteil. „Ich befreie Menschen von ihrer Urangst, kontrolliert zu werden“, gibt er vor und fügt aufrichtig hinzu: „Die Leute kommen freiwillig“ – wenn auch zusehends zum Billiganbieter chipfrei24.de, der ihm für 99 Euro Festpreis die Kundschaft abspenstig macht. Konkurrenz zerstört das Geschäft, sagt Dr. Grobel und bläst zur Gegenoffensive, die gleichermaßen bitterböse und brüllend komisch ist. Denn was Thönnissens Crew auch in den nächsten vier Folgen simuliert, ist der wahrhaftige Irrsinn einer Gesellschaft, die dem Herdentrieb massentauglicher Distinktion folgt, oder anders ausgedrückt: Jeder sehnt sich nach Individualität, aber bitte nach derselben wie alle anderen.

Nach diesem Prinzip schlüpfen die sieben Hauptdarsteller in ständig wechselnde Rollen und zeigen am Beispiel komischer Käuze, wie sich der soziokulturelle Mainstream aus Zuflüssen von ungeklärter Zusammensetzung speist. In Folge zwei etwa werden Deutsche karikiert, die mit Federschmuck verkleidet um Geborgenheit eines Apachen-Stamms mit e.V.-Status kämpfen. In Episode drei fordert ein Verein die Abspaltung der Neustädter Neustadt von „den Schmarotzern“ der Neustädter Altstadt, bis sich beide mal begegnen. Und bevor eine Psychologin zum Staffelabschluss ihre Praxis aufgibt, in der sie sich vor allem selbst therapiert, betreibt der größte Arbeitgeber im Ort mit einem Kunstpreis Greenwashing, das alle unterstützen.

Ausnahmefall wird Normalfall

Mit Dialekten von Kölsch über Friesisch und Fränkisch bis irgendwas aus dem Osten machen die Drehbücher der Protagonisten Matthias Thönnissen, Michael Halberstadt, Ben Rodrian und ihrer Kolleginnen Massiamy Diaby, Sylke Verheyen, Ulrike Arnold den Ausnahme- zum Normalfall und reichen so an ein großartiges Vorbild heran: Mit ihrer Mockumentary über „Weltverbesserungsmaßnahmen“ wie derjenigen, alle Menschen mit Plateausohlen auf Einheitsgröße (also die des Erfinders) und damit Augenhöhe zu bringen, haben Jörn Hintzer und Jakob Hüfner 2005 Maßstäbe pseudodokumentarischer Realsatiren gesetzt und vorgeblich gemeinschaftsförderndes Verhalten als kleingeistigen Egoismus entlarvt.

Zur Entfaltung kommt diese Demaskierung auch im „Normaloland“ aber nur, weil nie die Protagonisten lächerlich gemacht werden, sondern bloß die Verhältnisse, in denen sie um Anteilnahme kämpfen. „Der Laden hier“, sagt Halberstadt als chipfrei24-Vertreter in die Kamera, „war früher Paket24, dann Food24.“ Sobald ein neuer Trend komme, „setzen die Herrschaften sich drauf“. Und finden überall Kundschaft. Auch in den Neustadts der Welt. Es gibt davon Tausende.

Jan Freitag

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