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Rassismus und Unterdrückung im Namen des Glaubens.

© Western History Collection

Arte-Doku über Alltagsrassismus: Der endlose Kreis

Eine Arte-Doku zieht eine erschreckend gerade Linie von der Inquisition bis zum heutigen Alltagsrassismus.

Florida, fast zweihundert Jahre vor unserer Zeit. Friedlich sirrt der Dschungel, als die stolze Frau vom unbeugsamen Volk der Seminolen im Dezember 1836 mit einer Gruppe entflohener Sklaven den Kampf gegen rücksichtslose Invasoren beschließt, die sich Siedler nennen.

„Gebt uns unser Eigentum zurück“, sagt ein US-Soldat, sonst drohe ein Blutvergießen. „Ihr stehlt Land, ihr stehlt Leben, ihr stehlt Menschen“, entgegnet die Eingeborene und fragt: „Welche Spezies tut so was?“ Diese hier, sagt der Angehörige einer Zivilisation, die sich für zivilisierter hält als ihre. Dann schießt er ihr ins Gesicht.

So beginnt ein Arte-Essay, das beim Blick aufs Äußere der amerikanischen Eroberung ins Innere einer ganzen Gattung sieht. Unserer Gattung. Homo Sapiens. Krone der Schöpfung, so loben sich viele Schriftreligionen. Ausgeburt der Hölle, so korrigiert sie Raoul Peck in seiner vierteiligen Dokumentation „Rottet die Bestien aus“.

Nach einem Zitat aus Joseph Conrads berühmter Novelle „Herz der Finsternis“, zeichnet der Filmemacher aus eigener Perspektive ein Menschenbild, dessen Titel offenlässt, ob er vollzogene Ausrottungen unserer Spezies beschreibt oder den Aufruf zur eigenen. Beides wäre schlüssig. („Rottet die Bestien aus“, Arte Mediathek)

Denn Peck, der nahezu zeitlebens die Abgründe gewöhnlicher Gesellschaften und Geschöpfe erforscht und für sein Rassismus-Essay „I Am Not Your Negro“ 2018 fast den Oscar gewann, zeichnet ein fürchterliches Bild der Bestie Mensch. Aus Sicht seiner eigenen Biografie, die den Haitianer Ende der Fünfzigerjahre von Port-au-Prince übers kolonialistisch ausgeschlachtete Belgisch-Kongo oder das amerikanische Schwarzen-Ghetto Brooklyn zum Filmstudium nach Berlin führte, macht er die Unterdrückung aller Nichtweißen zu seiner und umgekehrt.

Viermal 60 Minuten reist er damit durch die kolonisierte Welt entrechteter, geknechteter, vernichteter Bevölkerungen der letzten 600 Jahre und findet Belege destruktiver Energie, die selbst das Mittelalter in den Schatten stellen. Anders als es der herrschende westliche, weiße und männliche Diskurs suggeriert, bleibt der Holocaust in seiner industriellen Effizienz zwar singulär, nicht aber die Basis aller Vernichtungsexzesse.

„Diese drei Worte reißen eine gewaltsame Spur in die westliche Weltgeschichte.“

Sie nämlich verortet der schwedische Literaturhistoriker Sven Lindquist, auf dessen Werk Pecks Serie beruht, in Europas Expansionsdrang der Neuzeit. „Zivilisation, Kolonisation, Vernichtung“, sagt der Ich-Erzähler aus dem Off – „diese drei Worte reißen eine gewaltsame Spur in die westliche Weltgeschichte.“

Wer der popkulturellen Collage aus gezieltem Reenactment und kreativem Archivmaterial fast ohne Talking Heads vier Stunden lang schadlos folgen kann, blickt fortan anders auf Gewissheiten westlichen Perspektiven. Die „Entdeckung“ Amerikas zum Beispiel, die einen der elendsten Völkermorde der an Völkermorden so reichen Menschheitsgeschichte nach sich zog. Die „Missionierung“ der neuen Welt, die den Katholizismus endgültig als rassistische Doktrin entlarvte.

Oder die „Inquisition“ des 13. Jahrhunderts, die einen Grundstein fürs hartnäckige Selbstbild Weißer Überlegenheit legte. Was Pecks Serie so beispiellos macht, ist seine Bereitschaft, auch dort nach Ursachen rassistischer Handlungsmuster zu suchen, wo andere nicht mal hinsehen.

Irlands Eroberung durch England etwa im 16. Jahrhundert, die nicht nur Abertausende angeblich minderwertiger Iren vorsätzlich das Leben kostete, sondern weitere Abermillionen nach Amerika drängte, dessen Ureinwohner aus Sicht der Neuankömmlinge ihrerseits minderwertig waren und fast ausgerottet wurden. Der Todesschütze vom Anfang, Angehöriger einer Zivilisation, die sich für zivilisierter hält als andere, war womöglich Nachfahre verachteter Ahnen aus Irland und schloss den Kreis des Rassismus. Er dreht sich immer weiter.

Jan Freitag

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