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Fest der Freiheit mit Gattin Anna-Maria: Zuvor sah man Anis Ferchichi alias Bushido noch mit Tränen in den Augen über seine Angst und Wut reden, weil er sich Clan-Größe Arafat Abou-Chaker ausgeliefert sah.

© Amazon Prime Video

Spießerexistenz am Gesellschaftsrand: Bushidos Wahrheit heißt Hauptsache Rampenlicht

Eigentlich könnte die Bushido-Doku von Amazon Prime durchaus interessant sein – wäre der Autor kein Kumpel des Gangsta-Rappers.

Was genau Berlin ist, darüber herrscht seit 18 Jahren ein ebenso fester wie fragiler Konsens. „Arm, aber sexy“ nannte Berlins Ex-Regierender Klaus Wowereit im November 2003 seine Hauptstadt, die damals wie heute gleichermaßen glamourös und verwildert war, größenwahnsinnig und genügsam, bodenständig und revolutionär, preußisch und global – vieles davon verkörpert in einer Person, der wir ab heute sechs Folgen lang beim glamourös verwilderten, größenwahnsinnig genügsamen, bodenständig revolutionären, preußisch globalisierten Einzelkampf um Liebe und Respekt beiwohnen: Anis Ferchichi, besser bekannt als Bushido.

Seit seinem Debütalbum „Vom Bordstein bis zur Skyline“, wenige Wochen vor Wowereits berühmten Dreisatz beim damals blutjungen Label Aggro Berlin erschienen, zählt der gebürtige Schöneberger ja nicht nur zum Lukrativsten, was deutscher HipHop hervorgebracht hat; er wurde zum Synonym einer Hauptstadt im Dauerclinch von Hybris und Selbstzweifel, der hart machen kann oder mürbe. Bushido hat sich für ersteres entschieden. Und wie dieser Findungsprozess verlaufen ist, das zeigt uns „Bushido’s Wahrheit“, wie Peter Rossberg seine Superstarstudie „Unzensiert“ grammatikalisch eigentümlich untertitelt, ab heute beim Streamingdienst Amazon Prime.

[„Unzensiert – Bushido’s Wahrheit“, Amazon Prime Video, ab Freitag]

Ganz ungeniert steigt sie zunächst mal dort ein, wo es wohl kaum jemand erwartet. In Bushidos Augen, die sich angesichts der nachfolgenden Ereignisse zuvor mit etwas füllen, das derart sorgsam inszenierter Männlichkeit dem Klischee nach fremd sein sollte: Tränen. Minutenlang erzählt Bushido mit entwaffnender Ehrlichkeit von Angst und Wut und einem Kontrollverlust, der erst zu Beginn der zweiten Folge in Selbstermächtigung mündet: seinem 40 Geburtstag, ein Fest der Freiheit, so schreit es Gattin Anna-Maria in die Gesellschaft halstätowierter Kollegen samt aufgedonnerter Frauen hinaus.

Wenn „Unzensiert“ zu True Crime wird

Denn da hat Bushido gerade ein bizarres Kapitel seiner halbkriminellen Vergangenheit beendet: die Verbindung zum lokalen Clan-Boss Arafat Abou-Chaker, dem der Rapper nach eigener Aussage jahrelang ausgeliefert war. Und hier wird „Unzensiert“ zu dem, was „Bild“-Reporter halt aus Rot- & Blaulicht saugen: Blut, Schweiß & Tränen, oder mit dem Boom-Format der pandemischen Gegenwart ausgedrückt: True Crime.

Der „Bild“-Mann Rossberg interessiert sich wenig für jenen Gangsta-Rap, den Bushido aus der Bronx über Neukölln ins Land verbreiten half; was ihn umtreibt, ist eine Eskalationsspirale bis hin zum versuchten Auftragsmord, den Richard Przozowskis Kamera ins genretypische Wechselbad von Bling Bling und Ghetto taucht. Über fünf Stunden hinweg erfahren wir also altbekannt Verblüffendes aus der Intimsphäre einer öffentlichen Figur mit Hang zur Selbstdarstellung. Scham- und schutzlos nimmt Bushido sein Publikum mit ins Statussymbolinferno eines exklusiven Alltags der Botox-Lippen und Plasmabildschirme.

Selbst seine vier Kinder sind ständig gut erkennbar, wenn Bushidos Beobachter (und Kumpel) Rossberg bis August 2020 mehr als zwei Jahre lang ins zerrüttete Privatleben filmt. Eloquent wie ein Poetry-Slammer redet der Schulabbrecher von Schultüten und Morddrohungen, Fortpflanzung auf dem Bambi-Klo oder Polizeischutz beim Einkaufen. Egal – Hauptsache Rampenlicht.

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Fast fünf Stunden lang vermisst man daher schmerzhaft, wie Anis Mohamed Youssef Ferchichi zum „Weg des Kriegers“ wurde, den sein japanischer Kampfname verdeutlicht. Vor allem aber: warum er sich einst zum Opfer anderer Krieger verzwergte. „Bushido’s Wahrheit“ mit Deppen-Apostroph bleibt demnach nur Bushidos Wahrheit ohne Wahrheit. Denn Peter Rossberg hinterfragt nichts, er hält nur drauf, weil man ihn lässt. Ab und zu begibt er sich zwar mithilfe von Familie, LKA-Ermittlern oder einem „Sicherheitsexperten“, der vieldeutige Sachen wie „Berlin ist’n Kino, wir warten ab“ sagt, auf Spurensuche einer Spießerexistenz am Rande der Gesellschaft. Aber bis auf ein paar Archivbilder der musikalischen Frühphase bleibt sie oberflächlich und grell.

Zu groß ist der Sog einer organisierten Kriminalität, die „Bild“-Reportern naturgemäß Schnappatmung verpasst. Warum Bushido Berlin ist und Berlin Bushido, das ließe sich mit etwas journalistischem Ehrgeiz nebenbei skizzieren.

Nur: davon hat Amazon Prime weit weniger als das, was man Star-Struck, vulgo: Promi-Geilheit nennen könnte. Dass „Unzensiert“ dennoch sehenswert ist, liegt entsprechend daran, dass man Figuren wie Bushido im Grunde kaum unsehenswert erzählen kann.

Jan Freitag

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