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Medien: „Die Bundesbahn ist besser als ihr Ruf“

Dirk Sager war 17 Jahre Korrespondent in Moskau. Ein Gespräch über Deutschland, Sibirien und Sehnsüchte

Herr Sager, Sie gehen mit Ihrem neuen Buch „Russlands hoher Norden“ auf Lesereise durch Deutschland. Wie reagieren die Menschen auf Ihre Schilderungen?

Sie erkennen manches wieder. Auch hier sind viele Menschen verunsichert, sie fühlen sich allein gelassen. Ratlosigkeit geht um, das Gefühl, dass niemand in Deutschland eine Lösung weiß. Ein bisschen erinnert mich das an russische Provinzen, wo die Leute sagen, Moskau ist weit, von dort kommt nichts Gutes.

Heißt: Früher war alles besser?

In den letzten fünfzehn Jahre habe ich das Land fast nur aus der Ferne gesehen. Es war damals anders. Es gab große Themen, die die Politik bewegten, die Entspannungspolitik, die Wende vom Adenauer-Staat zur Republik Willy Brandts und Gustav Heinemanns. Die Akteure auf allen Seiten waren geprägt von einer Jugend in Krieg und Nachkriegszeit. Das gab dem Diskurs Konturen. Die Themen, um die es heute geht, sind nicht weniger wichtig. Im Gegenteil. Aber ich habe zum Beispiel nicht den Eindruck, dass wir das Glück der Vereinigung wirklich verstanden haben.

Sie waren 17 lange Jahre in Moskau. Was fällt Ihnen besonders auf, wenn Sie auf Deutschland blicken?

Erstens finde ich, dass die Bundesbahn besser ist als ihr Ruf. Da gibt es in Sibirien im Transportwesen größere Schwierigkeiten. Etwas ernsthafter: Was ich nicht verstehe, warum wir nicht weiter kommen in Deutschland. Warum wir uns im Osten diese unglaubliche Arbeitslosigkeit leisten. Warum so viele Menschen ohne jede Perspektive bleiben. Ich finde das empörend.

Sagen sie denen nicht: Denkt an Russland, dagegen geht es euch noch Gold?

Dass das Leben auf dem russischen Dorf elend ist, das ist sozusagen gegeben. Rosig war es auch zu Zeiten des Sozialismus nicht. Wenn man aber zurückkommt nach Deutschland, erwartet man andere Lebensgefühle als auf dem russischen Dorf, wo die Menschen auf die Obrigkeit nichts mehr geben und gelernt haben, irgendwie durchzukommen.

Könnte es sein, dass uns das russische Elend einfach pittoresker erscheint als das Thema „Arbeitslos in Brandenburg“?

Schon möglich. Als ich während eines Jahres in Potsdam Korrespondent für Brandenburg war, bekam ich den Auftrag für einen zwanzigminütigen Film über Eisenhüttenstadt. Noch während der Dreharbeiten schmolz die mir zur Verfügung stehende Sendezeit auf elf Minuten. Wir haben da Defizite, kein Zweifel.

Die Deutschen sind süchtig nach Russland. Verstehen Sie das?

Sibirien ist der Wilde Westen unseres Kontinents. Und Russland ist ein Land, mit dem uns viel verbindet. Bei mir begann die Liebe zu Russland als Kind, der Literatur wegen.

Je älter die TV-Korrespondenten werden, desto lieber reisen sie in die Ferne, am liebsten nach Sibirien. Was suchen sie da?

Vielleicht ist die Sehnsucht im Lebensherbst der Patriarchen eine Winterreise: „Fremd bin ich eingezogen, fremd zieh ich wieder aus.“ Ich bin immer wieder gerne nach Sibirien gefahren, weil es für mich das aufgeschlagene Buch russischer Geschichte ist. Dort kulminiert das Unglück der Jahrhunderte. Die Erinnerung an den Gulag, auf dessen Spuren man in der Landschaft ebenso trifft wie bei den Menschen, gehört ins Bild europäischer Geschichte – auch wenn Putin erkennbar daran nicht gelegen ist.

Sibirien, das gelobte Land.

Ich habe geradezu physisch darunter gelitten, wie wenig man sich in Moskau für Sibirien interessiert. Der Norden war lange ein sowjetischer Mythos, Sinnbild der Sieges der sowjetischen Menschen über die Natur – das war ein grauenhafter Irrtum. Und die Opfer sind vergessen.

Trotzdem: warum immer wieder Sibirien?

Meine großen Reisen begannen erst, als Journalisten nicht unabhängig nach Tschetschenien durften. Ich fand es übrigens empörend, wie wenig Protest dieses Verbot international erregt hat.

Kein Film über Russland, in dem es nicht um Schicksal und die russische Seele geht.

Nicht Schicksal als Gottesfügung. Ich möchte von Menschen erzählen, die um ein würdiges Leben ringen. Und unter den unglaublichsten Umständen stolz und glücklich sein können. Zum Beispiel jenes Paar der Russland-Deutschen, dass seit 50 Jahren auf einer einsamen Insel mitten im Jenissej lebt, von einer pietistischen Frömmigkeit erfüllt, als entstammten die beiden direkt dem Schwaben des siebzehnten Jahrhunderts – im Frieden mit sich und der Welt. Eine für mich sehr bewegende Begegnung.

Erschreckt Sie dieses ewig Russische nicht manchmal?

Mich erschreckt das neue Moskau viel mehr, das viele in all seiner Dynamik sicher ganz toll finden. Diese schönen, reichen Menschen, die sich Fußballclubs kaufen oder im Privatjet an die Riviera fliegen. Diese ganze Brutalität und Rücksichtslosigkeit. Auf der anderen Seite wächst zum ersten Mal seit 1000 Jahren eine Generation heran, die sich frei machen kann von den Schatten der Zaren und Diktatoren. Das gibt mir Hoffnung.

Aber Sie bleiben skeptisch.

Die letzten 15 Jahre waren enttäuschend. Natürlich behält der Pessimist in Russland meistens Recht. Aber sicher hätte es besser kommen können. Die Entgleisung begann für mich 1993, als Boris Jelzin das Parlament beschießen ließ, weil es gegen seine Privatisierungspläne war. Das Parlament! Der Westen spendete Beifall. Und was Putin macht, überzeugt mich auch nicht unbedingt.

Wer ist dieser Putin?

Er ist genialisch in der Begegnung mit Menschen. Man könnte ihn für liebenswert halten. Manche seiner politischen Entscheidungen, zum Beispiel seinen Feldzug gegen das unabhängige Fernsehen, finde ich desaströs, um es vorsichtig auszudrücken. Das war das Ende der demokratischen Entwicklung in Russland. Viele sagen ja, Russland brauche eine starke Hand. Dabei hat Russland mit einem zentralistischen Staat noch nie gute Erfahrungen gemacht.

Haben Sie ihn je getroffen?

Ich habe ihn zu Beginn seiner Amtszeit im Kreml interviewt. Wunderbar, dachte ich damals, ein ganz ziviler Mann, ohne Allüren, vielleicht ein russischer Olof Palme. Im Laufe des Gespräches kamen wir dann auf Tschetschenien und Putin sagte, „dieser Maschadov schickt mir immer antisemitische Unterhändler. Sie als Deutsche können doch nicht verlangen, dass ich mit Antisemiten verhandele.“ Das fand ich eine starke Art, die Wahrheit zu verdrehen. Danach war mein Vertrauen in Putin nachhaltig erschüttert.

Könnten Sie sich vorstellen, in Russland zu leben?

Nein. Diesem Staatswesen würde ich mich nicht aussetzen wollen.

Das Interview führten Thomas Eckert und Joachim Huber.

„Hoffnung am Haff“, der zweite Teil von Dirk Sagers Königsberg-Reportage, läuft heute um 20 Uhr 15 im ZDF, um 22 Uhr 15 folgt die Dokumentation „Russland: Zurück zur Großmacht?“.

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