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Foto: Christophe Simon/AFP

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Medien: Die Krise der Wikipedia

Mehr als 20 Millionen Artikel in 285 Sprachen: Die Online-Enzyklopädie ist zu einer der wichtigsten Wissensquellen der Welt geworden. Doch Vereinsmeier vergraulen Autoren und kleine Sprachfamilien werden abgehängt.

Im ersten Stock eines Neunziger-Jahre-Bürohauses in Kreuzberg, am Rande des Parks am Gleisdreieck entsteht „die Zukunft der Wikipedia“. So zumindest nennt das jenes Dutzend Entwickler, das hier, in den frisch bezogenen und noch kaum eingerichteten Räumen des Vereins Wikimedia Deutschland, „Wikidata“ erschaffen soll, das im Augenblick wichtigste Reformprojekt der Online-Enzyklopädie. Ein Jahr soll alles dauern, und man liegt angeblich gut im Zeitplan. Danach wird es Nutzern weltweit möglich sein, an einer zentralen Stelle Daten und Fakten in das gesamte Wikipedia-System einzuspeisen, zu korrigieren oder zu aktualisieren – damit die mit einem einzigen Mausklick in allen 285 bestehenden Sprachversionen zugleich auf den je neuesten Stand gebracht werden. In Berlin wird sich also mitentscheiden, wie zuverlässig die „Summe des menschlichen Wissens“ im nächsten Jahrzehnt verbreitet wird.

Mehr als 20 Millionen Artikel umfasst die Wikipedia elf Jahre nach ihrer Gründung in all ihren Sprachen. Dazu kommen weitere große Projekte wie das Medienarchiv Wikimedia Commons, das Wörterbuch Wiktionary oder die Zitatensammlung Wikiquote. Längst gehört die Wikipedia mit Zugriffen durch bald eine halbe Milliarde Menschen im Monat zu den fünf meistgenutzten Internetseiten der Welt – kostenfrei und spendenfinanziert. Und wenn sie einst von Pädagogen und Akademikern geschmäht wurde, so kooperiert sie heute eng mit den Wissensinstitutionen der Nation: Ihre Referenten sind Gäste in Schulen; an Universitäten wie der Uni Potsdam oder der LMU München können Studenten in einem Pilotprojekt Seminarscheine erwerben, indem sie Wikipedia-Artikel schreiben; und Museen können sich einen von Wikimedia bezahlten Berater ins Haus holen, den sogenannten „Wikipedian in Residence“, der mit ihnen überlegt, wie sich die eigenen Bestände der Welt via Wikipedia präsentieren lassen.

Eigentlich klingt das alles nach einer einzigartigen Erfolgsgeschichte. Andererseits steckt die Wikipedia gerade in ihrer ersten größeren Entwicklungskrise. Tatsächlich fällt es dem Netz-Lexikon zunehmend schwer, neue Autoren zu gewinnen. Und vor allem scheitert es zu oft daran, sie dann auch zu halten. Das Mitmachen erscheint vielen zu kompliziert, schon allein wegen einer altertümlich anmutenden Benutzerführung. Dementsprechend will man die nun auch vereinfachen. „Das Erstellen eines Wikipedia-Artikels muss so leicht sein wie das Posten eines Facebook-Updates“, sagt Pavel Richter, der Vorstand von Wikimedia Deutschland, dem deutschen „Chapter“, wie sich die Ländervereine der Wikipedia nennen. Wenn alles klappt, dann kommt man diesem Ziel noch im Laufe dieses Jahres sehr viel näher, wenn endlich eine lang ersehnte neue Benutzeroberfläche online gehen soll. Was übrigens „im laufenden Betrieb bei einer der populärsten Websites der Welt“, wie Richter hervorhebt, ein Großprojekt ganz eigener Art ist.

Das ist aber längst nicht das einzige Problem. Andere schreckt der vereinsmeierische Umgangston mancher Administratoren ab. Im Ergebnis gibt es nicht nur zu wenige Autoren, sondern auch einen eklatanten Mangel an Diversität. Es fehlt an Frauen (die nur neun Prozent der aktiven Wikipedianer ausmachen), an Älteren, in Deutschland zum Beispiel auch deutlich an Migranten. Pavel Richter kennt die lange Liste der Malaisen nur zu gut. „Ein Problem ist, dass Wikipedia nicht nur eine Enzyklopädie ist, sondern auch ein Soziales Netzwerk“, sagt Richter. Die Community müsse es schaffen, „dass sie offen ist, dass man Leute nicht abschreckt“. Es sei jedenfalls nicht technisches Unvermögen, das Frauen von der Mitarbeit an der Wikipedia abhalte. Die Wikipedia plagt aber auch eine gehörige Schieflage im Binnenverhältnis der internationalen Wikipedia-Familie, die eben nicht 285 Sprachversionen der einen Enzyklopädie, sondern 285 eigenständige Wikipedias umfasst. Unter diesen aber hat sich eine ganz eigene Klassengesellschaft des Wissens herausgebildet.

„Der Erfolg der Wikipedia gilt eigentlich nur für sehr wenige Wikipedias“, meint Gregor Franz, der sich in seiner Abschlussarbeit im Studiengang „Information und Dokumentation“ an der Fachhochschule Potsdam mit den Problemen der kleineren Wikipedias befasst hat. Er rechnet vor, dass die Millionenzahl der Wikipedia-Artikel vor allem von einigen wenigen Großsprachen gestellt wird. Das sind neben der englischen Wikipedia vor allem die deutsche (die weltweit zweitgrößte) und die französische Edition. Zwei Drittel der anderen Wikipedias kommen dagegen nur auf bis zu 20 000 Artikel, die im Schnitt auch noch wesentlich kürzer sind. Die Wikipedia auf Bengali, einer Sprache, die immerhin mehr als 200 Millionen Menschen sprechen, verhält sich ihrem Umfang nach zur deutschen Wikipedia wie eine Raymond-Carver-Kurzgeschichte zu Tolstois Krieg und Frieden. Zu den kleinen Wikipedias gehören auch sonst längst nicht nur jene, die in Minderheitenidiomen verfasst sind. Die chinesische Wikipedia etwa ist im Verhältnis zur Zahl der Mandarin-Sprecher ein Zwerg. Gleiches gilt für die Hindi-Version.

Als eine „Art Teufelskreis“ beschreibt das Gregor Franz: Die kleinen Wikipedias haben wenige Besucher, weil sie nur wenige Artikel haben. Wenige Besucher aber bedeuten auch weniger neue Autoren, die sich aus der Menge der Nutzer rekrutieren könnten. So fehlt es an der kritischen Masse, um diese Wikipedias auszubauen. Die Wissenskluft zwischen den Sprachwelten vertieft sich weiter – nur, wer eine Wikipedia-Weltsprache beherrscht, profitiert vom immensen dort hinterlegten Wissen. Mehr Übersetzungen wären eine naheliegende Lösung. Auch die Wikipedianer haben damit schon experimentiert. Um die Einträge in der tamilischen Wikipedia zu vermehren, wurden mit Unterstützung von Google sogar Übersetzer bezahlt.

Gregor Franz empfiehlt der Wikipedia indes, weiter auf die Amateure zu setzen: Seiner Meinung nach könnte man den kleinen Wikipedias schon dadurch auf die Beine helfen, dass anders als bisher Zitate aus anderssprachigen Wikipedias grundsätzlich als Quellenbeleg genügen. Auch könnten eigene Wiki-Plattformen den Austausch unter Übersetzern fördern. Und Franz hat ein System erdacht, bei dem sich Nutzer mit ihren jeweiligen Sprachfertigkeiten auf der Seite der Wikipedia registrieren könnten. Riefen sie dann einen Artikel auf, der in einer ihrer Sprachen noch ausbaufähig wäre, würden sie konkret zur Mitarbeit aufgefordert.

Ein Ansatz, dessen Aussicht auf Realisierung nicht allzu groß ist. Doch auch bei der Wikimedia Foundation in den USA, der eigentlichen Wikipedia-Betreiberin, will man verstärkt daran arbeiten, die Spaltung der Wikisphäre zu überwinden. Neue Büros in Indien, Brasilien und im arabischen Raum sollen für die Enzyklopädie werben. Und technische Neuerungen könnten dabei helfen. So wird an einem verbesserten mobilen Zugang gearbeitet, was, wie Pavel Richter unterstreicht, gerade den Nutzern in Schwellen- und Entwicklungsländern zugutekäme, in denen das Festnetz für den Onlinezugang kaum eine Rolle spielt.

Und schließlich kommt an dieser Stelle all das ins Spiel, woran nur wenige Meter Luftlinie von Richters Schreibtisch entfernt zur Zeit die Programmierer tüfteln. Denn wenn Wikidata, dieses neue Gefäß des globalen Faktenwissens, erst einmal fertig und von den Nutzern befüllt worden ist, dann, so die Hoffnung, werden nicht zuletzt die Autoren kleiner Wikipedias vom Zugriff auf eine zentrale Datenbank profitieren können. Und das wäre dann Berlins bescheidener Beitrag für eine bessere Wiki-Welt.

Niklas Hofmann

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