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Daniel Cohn-Bendit begibt sich auf eine sehr persönliche Suche, bei der er viele Gespräche führt.

© NDR

Dokumentation „Wir sind alle deutsche Juden“: Dieser ganze Schlamassel

In einem Dokumentarfilm im Ersten erkundet der Politiker Daniel Cohn-Bendit seine jüdische Identität.

Daniel Cohn-Bendits älterer Bruder Gabriel ist ein stattlicher Mann mit weißen Haaren und weißem Vollbart. Die Geschwister debattieren auf einer Parkbank im südfranzösischen Moissac, wohin ihre aus Berlin stammenden Eltern vor der deutschen Besatzung geflohen waren.

Sie sprechen auf Französisch lebhaft darüber, was es eigentlich bedeute, ein Jude zu sein. Er wehre sich in letzter Zeit gegen das „Identitätsgehabe“, sagt Gabriel. Er wolle sich nicht einsperren lassen in einer Identität, „die andere aus mir machen wollen“. Schließlich ruft er aufgebracht aus: „Ihr nervt mich. Ich bin kein Jude.“ Daniel widerspricht kurz darauf aus dem Off: „Wir sind Juden, auch wenn ich nicht genau erklären kann, was das bedeutet.“

Antisemitische Untertöne während der 68er-Proteste

Das Gespräch aus dem im Jahr 2020 produzierten Dokumentarfilm „Wir sind alle deutsche Juden“ wirkt, als hätten die Brüder die jüngste Debatte über jüdische Identität in Deutschland vorweggenommen. Man kann eigentlich den ganzen Film von Cohn-Bendits Stiefsohn Niko Apel als angenehm unaufgeregte Ergänzung zu dem Streit sehen, der durch den Angriff des Schriftstellers Maxim Biller auf den Publizisten und Lyriker Max Czollek in der „Zeit“ ausgelöst worden war. Biller schmähte Czollek als „Faschings- und Meinungsjuden“ und sprach dem 1987 in Ost-Berlin geborenen Enkel eines jüdischen Großvaters ab, ein Jude zu sein.

Die anschließende Debatte gipfelte in einem Offenen Brief, in dem sich 278 „jüdische und nicht-jüdische Kolleg*innen“ mit Czollek solidarisierten.

Unstrittig an Billers Polemik ist: Nach den religiösen Gesetzen des Judentums gilt nur als Jude, wer eine jüdische Mutter hat. Also erklärt Daniel Cohn-Bendit am Anfang des Films in einer Art Ansprache an die tote Mutter liebevoll-ironisch: „Dir habe ich den ganzen Schlamassel zu verdanken.“

Er weiß aus eigener Erfahrung, dass man im Zweifel von anderen daran erinnert wird, Jude zu sein – schon in der Zeit der Studentenrevolution in Frankreich, deren redegewandter Anführer der spätere Frankfurter Sponti und Europa-Parlamentarier der Grünen war.

Der Generalsekretär der Kommunistischen Partei habe ihn 1968 in einem Text mit antisemitischen Untertönen als deutschen Provokateur bezeichnet. Woraufhin bei Demonstrationen, wie Filmaufnahmen belegen, 23 Jahre nach Kriegsende in den Pariser Straßen eine seltsame Parole gerufen wurde, gedacht als Solidarität für einen rebellischen Studenten mit deutschen Wurzeln: „Wir sind alle deutsche Juden.“

Gut 50 Jahre später weiß der einstmals „rote Danny“ allerdings „immer noch nicht, was das ist, mein Judentum“. Dass seine Suche nach der eigenen Identität im Film fast ausschließlich in Israel erfolgt, ist wohl damit zu erklären, dass es zuerst die Anfrage eines französischen Produzenten nach einem Israel-Film mit Daniel Cohn-Bendit gab.

[„Wir sind alle deutsche Juden“, ARD, Montag, um 23 Uhr 35]

Der Protagonist bat seinen Stiefsohn, die Regie zu übernehmen. Dokumentarfilmer Apel, der 2009 für einen Film über eine emanzipierte Zahnärztin und Rallyefahrerin im Iran („Sonbol – Rallye durch den Gottesstaat“) mit dem Grimme-Preis ausgezeichnet worden war, schlug dann vor, den Israel-Film mit Cohn-Bendits zunehmendem Interesse an der Frage nach der eigenen jüdischen Identität zu verbinden.

Dabei hat es der Regisseur geschafft, Cohn-Bendits Mitteilungsdrang angenehm zu bremsen. In den Interviews erweist sich der 76-Jährige als freundlicher, aufmerksamer Zuhörer. Manches macht den Ex-Rebellen mit der „großen Klappe“ (Cohn-Bendit kokett über sich selbst) auch regelrecht sprachlos. Zum Beispiel als ein Mädchen aus dem Kongo an einer Schule für Geflüchtete unter Tränen erzählt, wie sie unter der Ausgrenzung in Israel leidet. Oder als die Chefredakteurin einer Modezeitschrift für orthodoxe Juden zur Attacke schreitet. Warum er denn überhaupt einen solchen Film mache? Wo er doch sein Judentum bereits „abgeschnitten“ habe, weil er eine „Goy“, eine Nicht- Jüdin, geheiratet habe.

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Nebenbei geht es natürlich auch um Cohn-Bendits gespaltenes Verhältnis zu Israel – ein Land, das ihn verärgern und zur Verzweiflung bringen könne, sagt er. „Trotzdem kann ich mich einfach nicht abwenden.“ Er besucht den Kibbuz, in dem er Anfang der 1960er Jahre zeitweise lebte.

Er trifft Naomi Bubis, die nach Tel Aviv ausgewanderte Tochter von Ignaz Bubis, des 1999 gestorbenen Präsidenten des deutschen Zentralrats. Er spricht mit Menschen, die vor dem Antisemitismus in Frankreich geflohen sind, mit einem Vertreter der aus Äthiopien stammenden Juden, mit um Versöhnung bemühten Müttern getöteter Kämpfer beider Seiten, einem palästinensischen Stadtplaner, einer jüdischen Siedlerin, einer berühmten Sängerin und Friedensaktivistin, einer liberalen Rabbinerin – und mit Ami Ayalon, dem ehemaligen Oberbefehlshaber der Marine und Ex-Chef des Inlandsgeheimdienstes Schin Bet, der mit der israelischen Politik mittlerweile hart ins Gericht geht.

Ob er als Palästinenser zu den Waffen greifen würde, fragt Cohn-Bendit. „Natürlich“, antwortet der Ex-General. „Denn um die Freiheit musst du kämpfen.“

So gibt es einige irritierende, überraschende, bittere, berührende und auch humorvolle Momente in diesem Film, bei dem sich Daniel Cohn-Bendit zwischendurch auf eher persönliche Kommentare beschränkt. Seine Identitätssuche dürfte nicht beendet sein, die filmische Begleitung aber ist für das Publikum, egal ob jüdisch oder nicht-jüdisch, ein Gewinn.

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