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Wo das Fernsehen nicht hinkommt, wo Europa aber gewählt werden kann. Die Initiative #SayYesToEurope bietet an, die Briefwahlunterlagen in der Kneipe „Zur Ritze“ auf der Reeperbahn in Hamburg auszufüllen.

© dpa

Fernsehen zur Europawahl: Fluchtpunkt Europa

Vom Privatsender Pro7 bis zur öffentlich-rechtlichen ARD: Eine Fernseh-Rundreise zwischen Infotainment und Panikmache

Ach, Europa! Würde sie vom Olymp auf ihren Erdteil blicken oder irdischer: aus dem Wasserzeichen einiger Geldscheine – die mythologische Ex des Zeus wäre wohl ein wenig stolz. Gut, zurzeit steckt Europa im Chaos; der Brexit bedroht den Kontinent politisch, das Klima physisch, die Rechte kulturell. Als Fan der europäischen Einheit könnte man glatt den Mut verlieren.

Zugleich aber rückt ein Kontinent, der geografisch gar keiner ist, mit jeder Zerrüttung näher zusammen. Und das hat was Seltsames, ja Sensationelles zur Folge. Die Wahl zum Europäischen Parlament ist, Achtung: von Interesse. Für die Menschen – das zeigt der demokratische Dauerdiskurs ums Ganze. Für die Wähler, das belegen allein in Berlin knapp 300 000 Briefwahlanträge mehr als 2014. Fürs Fernsehen, in dem selbst kommerzielles Infotainment so im Europafieber ist, dass die Beteiligung nach fünf Wahlen unter 50 Prozent durchaus den Startrekord knacken könnte.

Damals, 1979, liefen ja nicht nur die Urnen über, auch die Presse war voll von Europa. Und ein paar Tausend Medienkanäle und -krisen später wiederholt sich dieses Mitteilungsbedürfnis keineswegs nur auf Nachrichtenkanälen von Welt bis Phoenix. Dass die Berichterstattung bei ARD und ZDF mit jedem Tag näher am 26. Mai zunimmt, ist ja organisch verankert. Auch Arte impft sein länderübergreifendes Sendegebiet seit 27 Jahren praktisch pausenlos mit Dokus und Fiktionen zur kontinentalen Einheit in Vielfalt; da ist die Echtzeitbeobachtung „24 h Europe“ ebenso wie der Migrationssechsteiler „Eden“ nur logische Konsequenz einer ewigen Liebeserklärung.

Eskapisten entdecken Europa

Neu ist hingegen, wie plötzlich selbst die Eskapisten der modernen Fernsehlandschaft ihr Herz für Europa entdecken. Gut, nicht gerade bei der RTL-Gruppe, wo alles Politische bei n-tv oder noch schlimmer: Mario Barth verklappt wird. Der soziokulturell ähnlich sorglose Pro7Sat1Verbund dagegen fährt unterm Motto „Geh wählen!“ eine Wahl- und Sehbeteiligungskampagne, die von Youtube bis zum Altwarenhändler Kabel1 reicht. Während das Sat1-Frühstücksfernsehen sein (älteres) Publikum täglich unter dem Titel „Vorteil Europa“ versorgt, sollen Influencer der Marke Eko Fresh und Jette Lübbehüsen „junge User per Instagram ShoutOuts“ aufs Thema stoßen.

Wie bei den vergangenen zwei Bundestagswahlen, über die ein Klaas Heufer-Umlauf durchaus respektabel berichtet hatte, will Pro7Sat1-Vorstandsmitglied Conrad Albert „die gesamte Power unserer Entertainment-Plattformen“ aktivieren, um den Nachwuchs „auf allen Kanälen zu informieren und zum Wählen aufzurufen“. Nun ist es zwar ulkig, wenn Moderatoren, die bei „Taff“ und „Galileo“ den Konsumwahn feiern, kurz für Verantwortung werben, aber hey, wenn Influencer the influenced so influencen, dass sie sich nicht mehr bloß für Optik und Jobs begeistern, ist etwas Hybris hinnehmbar.

In Zeiten grassierender Vernunftverdrossenheit und hedonistischer Weltflucht, Filterblasen und Twitter-Präsidenten ist es deshalb eine gute Nachricht, wenn selbst die Spaßfraktion des Fernsehens mal ernsthaft wird. Europa, gar die EU wirkt offenbar nicht nur ganz praktisch, sondern richtiggehend cool.

Selbstbewusster AfD-Talkgast

Während die Boulevardanimateurin Viviane Geppert im Pro7-Clip einen Staatenbund feiert, „in dem wir wunderschöne Städte wie Paris nicht nur besuchen, sondern auch dort leben und arbeiten können“, bittet das öffentlich-rechtliche Fernsehen in die medialen Hall- und Panikräume der verzagten Mehrheitsgesellschaft zwischen Klimakrise, Flüchtlingsstreit, Dieselskandal und noch furchteinflößender: Rechtspopulisten.

Von denen saß Montag ein inhaltlich eher dürrer, akustisch sehr wuchtiger bei „Hart aber fair“ und zeigte im Kreise von vier Kontrahenten, warum Männer wie Guido Reil so gefährlich sind: Ihr unerschöpfliches Selbstbewusstsein braucht keine Fakten, nur Feuer. Das hatte der AfD-Bundesvorstand 45 Minuten zuvor auch in der ARD-Doku „Feindbild Brüssel“ gelegt, mit der die öffentlich-rechtliche Woche der Angst eröffnet wurde. Dienstagnacht zum Beispiel waren im ZDF „EU-Gegner auf dem Vormarsch“, die eine Primetime-Doku an gleicher Stelle als „Laut, forsch, national“ etikettierte, was parallel auf Arte unsere „Demokratie unter Druck“ setzt. Angst essen Seele auf – da dürfte sich das Grausen vor innerer Zersetzung beim „#tvDuell zur Europawahl“ von Frans Timmermans (SPE) und Manfred Weber (EVP) am Donnerstag im ZDF fortsetzen.

Der sozialdemokratische Spitzenkandidat und sein konservativer Kontrahent riefen in der ARD-„Wahlarena“ atmosphärisch zur letzten Schlacht aus. Da dürfte der Ton heute im ZDF kaum lockerer werden; vom anschließenden „Schlagabtausch“ der Topkräfte aus Grünen, AfD, Linken und FDP ganz zu schweigen.

„Das #tvduell zur Europawahl“, 20 Uhr 15, „Schlagabtausch“, 22 Uhr 15, beides ZDF

Jan Freitag

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