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„Guten Abend allerseits“. Für den wahren Fan entfaltet sich seit den Tagen von Heribert Faßbender die ganze Schönheit eines Spieltags erst in ARD-„Sportschau“.

© WDR/Thomas Brill

Loblied auf die Bundesliga-"Sportschau": Finger in die Ohren

Keine Wahrnehmung vor 18 Uhr 30: Warum man Fußball-Bundesliga nur genießen kann, wenn man sich medial abkapselt.

Mittellautes Singen hilft. Brummen im tieffrequenten Bereich. Oder, wenn es besonders schlimm ist: Finger in die Ohren stecken.

Wenn Sie mir an einem Samstagnachmittag zwischen 15 Uhr 30 und 18 Uhr 30 begegnen, könnten Sie mich für verhaltensauffällig halten. Für jemanden, der von inneren Dämonen angetrieben wird und gegen die Stimmen ankämpft, die nur er zu hören glaubt. Das Gegenteil ist der Fall. Ich möchte mich abkapseln, die Außenwelt abschalten, mir soll Hören und notfalls auch Sehen vergehen.

Vor allem will ich nicht wissen, ob Mainz 05 seine erstaunliche Siegesserie fortsetzt, der SC Paderborn wieder versagt oder dieser unsympathische süddeutsche Klub, dessen Name mir gerade entfallen ist, drauf und dran ist, erneut durch ein Duseltor in der Nachspielzeit zu gewinnen.

Ich bin Fußballfan, deshalb interessieren mich Zwischenergebnisse nicht. Seit den achtziger Jahren, als Heribert Faßbender seine Zuschauer noch mit der quasiamtlichen Floskel „Guten Abend allerseits“ begrüßte, bin ich darauf konditioniert, dass sich die ganze Schönheit und der ganze Schrecken eines Spieltags erst in der ARD-„Sportschau“ materialisiert. Nicht live, sondern in sechs- bis achtminütigen Zusammenfassungen (Samstag, ARD, ab 18 Uhr 30). Mehr möchte, mehr muss ich nicht sehen.

Während um mich herum immer mehr Menschen sich Push-Nachrichten auf ihr Smartphone schicken lassen oder die Weltereignisse per Headset in digitaler Echtzeit verfolgen, setze ich auf maximale Entschleunigung.

Ich versuche, die Zeit anzuhalten. Für mich dauert ein Spiel nicht 90, sondern mindestens 180 Minuten, und manchmal, wenn ich aus privaten oder beruflichen Gründen nicht pünktlich vor dem Fernseher sitzen kann und stattdessen der Festplattenrecorder glüht, kommt es zu einer Verlängerung. Doch die Spoiler lauern immer und überall.

An Samstagnachmittagen meide ich U- und S-Bahn, weil dort Spielberichte über die Bildschirme des „Berliner Fensters“ flimmern. Das Einkaufen ist schwieriger geworden, seit Supermarktketten ihre Kunden nicht mehr mit dem Panflötenhit „Einsamer Hirte“ von James Last besäuseln, sondern per eigenen In-Store-Radio-Programmen mit Nachrichten versorgen. Auch Imbisse, wo der Fernseher oft gleich schräg über der Fritteuse hängt oder überlauter Dudelfunk aus den Boxen dröhnt, werden zur No-Go-Areas.

„Mensch, steht ja schon drei zu null“

Anrufe ignoriere ich, mein Facebook-Account, auf dem ein befreundeter Anhänger des 1. FC Köln sofort jeden Torerfolg ausposaunt, bleibt ungeöffnet. Manchmal aber werde ich eiskalt von den Ereignissen überrollt.

„Mensch, steht ja schon drei zu null“, ruft dann Kollege I, oder Kollege II signalisiert mir mit einem süffisanten Lächeln, dass dieser überschätzte süddeutsche Verein, Sie wissen schon, wieder gewonnen hat. Immerhin ist seit diesem Sommer unklar, ob Hertha oder Union ein Tor geschossen hat, wenn aus dem gegenüberliegenden Haus lautstarker Jubel herüberschallt.

Wahrscheinlich hat mich der 30. Juni 1996 nachhaltig traumatisiert. An diesem Sonntagabend saß ich im IC „Bettina von Arnim“ von Heidelberg nach Berlin, während im Londoner Wembley-Stadion um 20 Uhr das Finale der Fußball-Europameisterschaft zwischen Deutschland und Tschechien angepfiffen wurde.

Es waren weitgehend vordigitale Zeiten, Handys waren keulenförmige Apparate, die im Zug garantiert keinen Empfang hatten. Das Spiel würde ich nicht live verfolgen können, aber mein VHS-Recorder war programmiert und ich freute mich auf eine Fußballnacht, für die ich bereits ein paar Bierflaschen kaltgestellt hatte.

Bis zur fünften Minute der Verlängerung, als sich die kratzige Stimme des Zugführers aus den Lautsprechern meldete: „Soeben hat Deutschland das EM-Finale durch ein Golden Goal von Oliver Bierhoff gewonnen.“ Um mich herum sprangen die Mitreisenden jubelnd auf, nur ich sackte auf meinem Platz in mich zusammen. Schön und gut, Deutschland war Europameister. Doch für mich war der Abend gelaufen.

Der Zauber eines Fußballspiels liegt darin, dass bis zum Abpfiff noch nichts entschieden ist. Ehrfürchtig raunend wird bis heute von legendären Partien erzählt, die zur Pause schon entschieden zu sein schienen, sich aber dann doch noch drehten. 1973 erkämpfte sich der 1.FC Kaiserslautern gegen das mit lauter späteren Weltmeistern besetzte Bayern München einen 7:4-Sieg, obwohl er bis zur 58. Minute mit 1:4 zurückgelegen hatte. Der FC Liverpool gewann 2005 das Champions-League-Finale im Elfmeterschießen gegen den AC Mailand, nachdem er zur Pause schon mit 0:3 besiegt schien.

Auf solche Dramen warte ich jeden Samstag. Sprechen Sie mich also bitte nicht an, wenn ich mit Fingern in den Ohren oder singend herumhüpfe. Klar bin ich bekloppt. Aber, um Reiner Calmund zu zitieren, positiv bekloppt. Fußball-bekloppt.

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