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Der Einfluss der Medien auf die Justiz wird überschätzt, lautete das Fazit einer Podiumsdiskussion bei der Jahrestagung des Netzwerks Recherche. Titel des Streitgesprächs: „Kachelmann & Co. – Wenn Journalisten zu Richtern werden.“ Foto: dapd

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Jahrestagung: Haltung oder Herdentrieb?

Sarrazin, Kachelmann, Nannen-Preis – das Netzwerk Recherche trifft sich in Hamburg. Auf dem Programm stehen 90 Podiumsdiskussionen und Werkstattberichte.

Jedes Jahr vor der Sommerpause trifft sich beim NDR das, was Spötter auch als die „Großloge des ritterlichen Journalismus“ bezeichnen. Tatsächlich ist die Jahrestagung von „Netzwerk Recherche“ ein ganz besonderer Kongress. Hier wird regelmäßig nichts Geringeres als die Lage des deutschen Journalismus verhandelt. In den rund 90 Podiumsdiskussionen und Werkstattberichten geht es um Tugenden und um Maßstäbe, aber auch um Sündenfälle und um Selbstzerknirschung. Die Branche betrachtet sich selbst und stellt Fragen nach „Moral? Ethik? Haltung?“, so der Titel der ersten Diskussionsrunde mit den Chefredakteuren Georg Mascolo („Der Spiegel“), Giovanni di Lorenzo („Die Zeit“), Ines Pohl („taz“) und Hans Leyendecker von der „Süddeutschen Zeitung“.

Di Lorenzo beklagte, wie konformistisch die deutschen Medien oft seien, wenn sie Personen im Gleichklang hoch- und danach wieder runterschrieben: „Wir haben die freieste Medienlandschaft der Welt und wagen es doch so selten, mit unserer Einschätzung einmal auszuscheren.“ Dieser Herdentrieb habe verschiedene Gründe, fand die Runde. Einerseits würden die Kollegen unter sich einen großen Anpassungsdruck erzeugen. Andererseits „möchte der Leser einen bestimmten Ton und findet: ,Schreib das, was ich immer schon dachte'“, sagte Leyendecker. Tatsächlich müsse man aber des Öfteren auch einmal gegen die Überzeugung der Leser antreten, fand Mascolo, der im Übrigen einräumte, der Vorabdruck von Thilo Sarrazins umstrittenem Buch „Deutschland schafft sich ab“ im „Spiegel“ sei ein Fehler gewesen.

Wie manipulativ Medienberichte oft seien, stellte Giovanni di Lorenzo fest: „Die Menschen sind fast nie so, wie das Bild, das die Medien von ihnen entwerfen. Jeder, der einmal selbst zum Ziel einer Berichterstattung geworden ist, fängt an, Journalisten zu verachten.“ Die allzu abwertenden Texte über den Politikbetrieb am Regierungssitz Berlin würden außerdem bei der Bevölkerung nicht nur zu Politik-, sondern auch zu Journalismusverdrossenheit führen.

Bei aller Kritik betonte Hans Leyendecker, dass der recherchierende Journalismus in Deutschland besser geworden sei. Immerhin feiert das Netzwerk Recherche dieses Jahr auch seinen zehnten Geburtstag. Zum Thema journalistische Ethik wies Moderator Tom Schimmeck noch darauf hin, dass laut Bertolt Brecht „erst das Fressen und dann die Moral“ käme und fragte, ob letztere vielleicht durch allzu verfressene Verleger auf dem Rückzug sei. Dazu Leyendecker: „Wir brauchen wieder Verleger, für die Zeitungen nicht ein Produkt wie jedes andere und zweistellige Renditeerwartungen nicht alles sind. Ansonsten ist das Reden von der Unabhängigkeit der Presse reine Heuchelei.“

Eine andere moralische Frage betraf den aberkannten Henri-Nannen-Preis für ein Porträt über Horst Seehofer im „Spiegel“, in dem Autor René Pfister suggeriert, er sei selbst im Hobbykeller des Politikers gewesen. Hier fand Ines Pohl, die in der Nannen-Preis-Jury für die Aberkennung des Preises gestimmt hatte, dass es dabei um die generelle Frage der Wahrhaftigkeit gehe.

„Wir kennen sie nicht, die Wahrheit“, sagte NDR-Moderator Kuno Haberbusch bei einer anderen Podiumsdiskussion mit dem Titel „Kachelmann & Co. – Wenn Journalisten zu Richtern werden“, an der auch Ralf Höcker, der Medienanwalt von Jörg Kachelmann, teilnahm. Die Frage der Vorverurteilung hatte am Freitag ja durch eine neue Wendung im Fall Strauss-Kahn weitere Aktualität bekommen. Rudolf Gerhardt, Professor für Medienrecht, berichtete von einer Umfrage, die er unter Strafrichtern gemacht hatte. Sie zeigte, dass die Medien teilweise Einfluss auf die Höhe der Strafe, aber nicht auf die Schuldfrage hätten. Sabine Rückert, die für „Die Zeit“ ausführlich über den Fall Kachelmann berichtet hatte, meinte, der Einfluss von Journalisten werde überbewertet. Sie blieb außerdem bei ihrer Einschätzung, dass im Fall Kachelmann die Staatsanwaltschaft durch ihren Versuch, erst die Medien außen vor zu halten und dann durch ihre Presseerklärungen Kern allen Übels gewesen sei. Selbstverpflichtungen der Medien, gekaufte Zeugenberichte oder die Veröffentlichung von Gutachten zu unterlassen, hält sie für einen frommen Wunsch: „Es hält sich sowieso niemand dran.“

Ein Name fehlt auf der rund 700 Teilnehmer umfassenden Liste der Jahreskonferenz: Der „Panorama“-Autor Christoph Lütgert reagierte verärgert auf die Entscheidung des Vorstands, dass nicht er den umstrittenen AWD-Gründer Carsten Maschmeyer interviewen durfte. Lütgert trat aus dem Verein Netzwerk Recherche aus, Maschmeyer sagte seinen Auftritt ab.

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