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Idol und Sängerin Rio bei einem Auftritt in Tokio. Das männliche Publikum ist entzückt.

© Arte

Japans Männer in Ekstase: Tokyo Girls

Die Pop-Girls von Japan und ihre männlichen Fans: Arte-Doku auf den Spuren eines soziokulturellen Phänomens

In Japan jubeln Männer mittleren Alters jungen Mädchen in kurzen Röcken auf der Bühne zu. Sie sind Fans durch und durch, beseelt von ihrer Mission. Bei bis zu 700 Auftritten pro Jahr folgen sie ihren sogenannten „Idols“ und bringen so ihre ganzen Ersparnisse durch. Eine Arte-Dokumentation beleuchtet ein bizarres neues Ritual zwischen Pop, Pädophilie und Selbstzerstörung.

Die Filmemacherin Kyoko Miyake ist in Japan aufgewachsen. In „Tokyo Idols“ beobachtet sie ein soziales Phänomen, das so ziemlich alles repräsentiert, weswegen sie sich als Frau in ihrem Land unwohl fühlt. Dabei zeigt sie Bilder, die aus westlicher Sicht schräg und befremdlich erscheinen. Man kennt vergleichbare Szenen nur aus Pop-Dokumentationen der 60er Jahre, in denen ekstatisch kreischende Mädchen den Beatles zujubeln. Doch hier haben sich die Rollen verkehrt. Erwachsene Männer finden ihren Lebensinhalt, indem sie mit hysterischer Inbrunst Girlies anbeten. Es sind junge Mädchen um die 20, teilweise auch deutlich jünger. Sie singen und tanzen und hoffen auf ihren Durchbruch in der Pop-Branche. Ihre Choreographie ist eher schlicht. Die Männer im Publikum geraten trotzdem regelmäßig in Ekstase.
Der Film veranschaulicht eine popkulturelle Entwicklung, die in Japan auch eine subversive Funktion erfüllt. Es geht um Männer, die im Leben und im Beruf gescheitert sind und keine Frau finden. Von den Idols – so das ungeschriebene Gesetz – werden sie alle gleich behandelt. Der soziale Status des Einzelnen spielt in dieser Fankultur keine Rolle. Konkurrenz zwischen den Männern ist suspendiert. „Nirgendwo sonst in der japanischen Kultur“, so Minori Kitahara, „sind wir Frauen am Ruder“.

Frauen werden fetischiert

Doch die Erklärung der feministischen Journalistin ist zweischneidig. Denn die Idols, von denen in Japan etwa 10 000 um die Gunst der Männer buhlen, sind verdinglicht. Fetischisierte Wesen. Ihre Begegnung mit den Männern, die eigentliche Attraktion dieser Events, ist perfekt ritualisiert. Nach dem Konzert stellen die Fans sich brav in einer Reihe auf. Sie wählen eines der Mädchen aus, das sie anbeten wie eine Ikone. „Dabei“, so die 23-jährige Rio Hiiragi – deren Auftritte man sich auf YouTube ansehen kann und deren Karriere die Doku bis hin zu einer Plattenaufnahme verfolgt –, „gibt es genaue Regeln, wo sie mich anfassen dürfen“.
Regeln im Regelbruch? Man ist irritiert beim Zusehen. Die Filmemacherin beleuchtet eine Untiefe der japanischen Kultur, in der körperliche Berührungen auch heute noch weitgehend tabuisiert sind. So hat insbesondere das Händeschütteln zwischen Männern und Frauen, zentraler Programmpunkt bei der Begegnung der Fans mit ihrem jeweiligen Idol, in Japan „traditionell eine sexuelle Bedeutung“.
Bis zu 2000 Dollar im Monat investieren Fans in dieses erotisch aufgeladene Ritual, das als „legale Grauzone“ gilt. Mütter, deren Töchter Tag für Tag vor Hunderten frenetisch jubelnder Männer tanzen, geben sich vor der Kamera erstaunlich gelassen. Das Thema Übergriffigkeit schneidet die Doku nicht an. Auch die psychologische Durchbringung dieses Mädchenkults bleibt marginal. Der Film enthält sich einer verurteilenden Wertung. Dennoch gelingt ihm die schwierige Balance zwischen Kritik an einem grenzwertigen Phänomen, das mit Kinderprostitution assoziiert ist, gleichzeitig aber auch die Funktion eines Überdruckventils erfüllt. Mehr noch: „Es ist eine Religion“, schwärmt einer der Jünger mit leuchtenden Augen. Die Fans scheinen glücklich zu sein, auf ihre Weise.

"Tokyo Idols: Die Pop Girls von Japan“, Arte, Freitag, 21 Uhr 45

Manfred Riepe

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